Migranten, Ausgebeutete und Verbannte, Opfer von Krieg, Genozid und
Klimawandel: Ihr Unglück hat der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado jahrzehntelang dokumentiert und in die Welt hinausgetragen.
Ihnen widmete er auch seine hochemotionale Dankesrede – um den
Friedenspreis, den er an diesem Buchmesse-Sonntag in der Frankfurter
Paulskirche bekommen hat, mit ihnen zu teilen.
Salgado nahm seine Zuhörer mit auf eine beklemmende Reise zu den Menschen auf seinen Bildern – zu den portugiesischen und marokkanischen Einwanderern, die er Anfang der 70er Jahre in Frankreich fotografiert hat, zu den Tuareg,
die zur selben Zeit vor einer schweren Dürre in Lager an den Ränden der
Städte flüchten mussten, zu den Opfern der Völkermorde und Bürgerkriege
in Burundi, Ruanda, dem ehemaligen Jugoslawien.
"Diese Männer, Frauen und Kinder gehören zu den Ärmsten der Menschheit.
Sie bilden eine riesige Armee von Migranten und Verbannten, von
ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern, von Opfern von Krieg und
Genozid", so Salgado in seiner Dankesrede: "Es sind die Betroffenen von
Hungersnöten, Dürrezeiten, Klimawandel und Abholzung; es sind die, die
durch die Gier mächtiger, habsüchtiger Männer von ihrem Land
vertrieben wurden, die der Mechanisierung der Landwirtschaft weichen
mussten, die durch die Konzentration von Grundbesitz, durch ungeplanten
Städtewachstum und brutale Wirtschaftssysteme, die von den reichsten Ländern der Welt kontrolliert
werden, ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Mit ihnen möchte ich
diesen Preis heute teilen. Ich nehme ihn nicht für mich an; ich nehme
ihn für sie an; ich nehme ihn mit ihnen an."
In seiner Zeit als Kriegsfotograf, zuletzt an der bosnisch-serbischen
Grenze 1994 habe ihn ein schrecklicher Gedanke beschlichen, erinnert
sich Salgado: "Konnte es sein, dass tief im Innern unsere natürlichste
Neigung nicht 'einander zu lieben' war, sondern 'einander zu töten'?" Der Mensch sei immer des Menschen Wolf,
so der Fotograf: "Aber die Zukunft der Menschheit liegt in unseren
eigenen Händen. Um eine andere Zukunft zu errichten, müssen wir die
Gegenwart verstehen. Meine Fotos zeigen diese Gegenwart, und so
schmerzhaft der Anblick ist, wir dürfen den Blick nicht abwenden."
Salgado hat den Blick nie abgewandt, sondern es als seine Mission
verstanden, Licht auf Ungerechtigkeit und Elend zu werfen. Er verband
seine Rede auch mit einem ganz persönlichen Dankeschön an seine Frau Lélia,
die seine Bücher gestaltet und mit der er gemeinsam das ökologische
"Instituto Terra" im Amazonasgebiet gegründet hat: "Lélia hat mir durch
ihre Liebe das Leben gerettet, als ich aus Ruanda kam, ein gebrochener Mann,
heimgesucht vom Blut und vom Tod, dem ich begegnet war. Liebe Lélia,
dieser Preis genauso dir wie mir". Am Ende der Dankesrede stand das Paar
gemeinsam vor den Fernsehteams und Fotografen - und den applaudierenden
Gästen.
Die Laudatio hielt der Regisseur und Autor Wim Wenders, der Salgado
und sein Wiederaufforstungsprojekt im Amazonasgebiet bereits 2014 in
seinem Dokumentarfilm "Das Salz der Erde" porträtiert und sich
schon immer intensiv mit Fotografie beschäftigt hat. Wenders' warme,
kluge Rede, die auch an die Anfänge des Friedenspreises und die tiefe
Friedenssehnsucht nach dem Krieg erinnerte, zeigte die enge
Verbundenheit zwischen dem Fotografen und dem Filmemacher.
Ein Akt der Empathie oder der Distanzierung? Unter welcher
dieser beiden Vorzeichen ein Foto entstehe, lasse sich aus einem Bild
herauslesen wie ein Wasserzeichen, so Wenders. "Uns an der Schönheit und
Erhabenheit der Erde so teilhaben zu lassen, das kann nur einer, der
vorher in ihre Abgründe gesehen hat, der die Hölle und das Fegefeuer durchquert hat, und der dem Horror selbst ins Auge geschaut hat, zu dem Menschen fähig sind."
Zwei Bilder von Salgado waren in der Paulskirche zu sehen und rahmten
das Podium ein: Eine Landschaftsaufnahme aus dem Norden Alaskas (aus
der Reihe "Genesis") und ein fast apokalyptisches Bild mit Arbeitern in
einer Goldmine (aus "Workers"). Mit seinen drei monumentalen Arbeiten "Workers", "Exodus" und "Genesis" führe
Salgado den Menschen die Bedingungen von Frieden vor Augen: "Es kann
keinen Frieden ohne soziale Gerechtigkeit, ohne Arbeit, geben, es kann
keinen Frieden ohne Anerkennung der Menschenwürde geben, und ohne die
Beendigung der unnötigen Zustände von Armut und Hunger, und es kann
keinen Frieden geben, ohne dass wir die Schönheit und Heiligkeit unserer
Erde achten." In der landläufigen Übersetzung der Bibel heiße es leider
immer nicht: "Macht Euch die Erde untertan" "was von einem Hochmut
zeugt, der sich in Überheblichkeit und schließlich in
Rücksichtslosigkeit verwandelt hat". Eigentlich, so Wenders, hätte die
Übersetzung der Genesis von Anfang an lauten müssen: "Ich vertraue Euch
die Erde Eurer Fürsorge an, Ihr seid für sie verantwortlich."
In seinem Gesamtwerk lasse Salgado den Betrachter spüren, was der größte Feind des Friedens in
der Gegenwart sei: "der brutale Niedergang des Mitgefühls, der
Mitverantwortung, des Gemeinsinns, des grundsätzlichen Willens zur
Gleichheit des Menschengeschlechts." Salgados Bilder würden entwaffnen,
Verbindung, Nähe und Empathie stiften – das habe der Stiftungsrat des
Friedenspreises erkannt, lobte Wenders. Die Auszeichnung lasse nicht nur
Salgado, sondern auch seinen Beruf, sein Hand-Werk, sein Lebens-Werk in
einem anderen Licht erscheinen, "eben als Werk des Friedens."
Der Friedenspreis ist mit 25.000 Euro dotiert und wird seit 1950 vom
Börsenverein des deutschen Buchhandels vergeben. In diesem Jahr ging er
zum ersten Mal an einen Fotografen. Mehr über die Begründung des Stiftungsrates finden Sie hier. Ein Porträt des Preisträgers können Sie hier nachlesen, mehr über seinen Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse erfahren Sie hier. Der nächsten Print-Ausgabe des Börsenblatts, die am 24. Oktober 2019 erscheint, liegt ein Sonderheft mit allen Reden und vielen Fotos der Preisverleihung bei.
via https://www.boersenblatt.net/2019-10-20-artikel-sebasti__o_salgado___wir_duerfen_den_blick_nicht_abwenden_-friedenspreisverleihung_in_der_frankfurter_paulskirche.1746526.html
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