Follower

Montag, 28. Oktober 2019

Als Kleist in geheimer Mission nach Würzburg reiste / Elmar Krekeler WELT 26.10.2019

Im September 1800 trifft ein gewisser Klingstedt in Würzburg ein. Heinrich von Kleist reist unter falschem Namen. Doch was hat ihn nach Franken getrieben? Ist er ein Spion und jagt ein giftiges Grün? 
Am 9. September des Jahres 1800 checkten zwei höchst unterschiedliche Herren im „Gasthaus zum Fränkischen Hof“ ein, dem besten Haus in der fürstbischöflichen Residenzstadt Würzburg. Die rüstete sich gerade für eine Belagerung durch napoleonische Truppen.
Die Herren nannten sich Bernhoff und Klingstedt. Für Letzteren, einen 22-Jährigen mit kaum zu bändigendem schwarzem Haar und blauen Augen, angeblich Sohn eines jüdisch-schwedischen Kapitäns von der Insel Rügen, sollte es die wichtigste Zeit seines Lebens werden. Schrieb er heim.
Sie kamen von Dresden her und hatten ursprünglich nach Wien gewollt. In Leipzig hatten sie sich an der Universität immatrikuliert, um mit den Studienpapieren weiterreisen zu können. Britische Pässe beim Gesandten in Sachsen zu bekommen hatte nicht funktioniert. Wie so einiges nicht in den kommenden Wochen.
Wie wahrscheinlich so ziemlich jeder Plan in Klingstedts Leben, der so wenig Klingstedt hieß wie Bernhoff Bernhoff. Bernhoff war die Camouflage des Juristen Ludwig von Brockes. Der zehn Jahre jüngere Klingstedt war 1777 in Frankfurt an der Oder als Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist zur Welt gekommen.
Sechs Wochen blieben Brockes und Kleist in der Stadt. Nach einer Woche mussten sie – wahrscheinlich, weil ihnen das Geld ausging – umziehen, kamen unter beim Stadt-Chirurgus Joseph Werth. Was die Anhänger einer von einem halben Dutzend Theorien zu bestätigen scheint, die seit den in 80 Briefen Kleists scheinbar gut dokumentierten Wochen aufgestellt wurden über den wahren Grund der Würzburg-Reise des abgebrochenen Soldaten, abgebrochenen Mathematikstudenten und gerade anbrechenden Schriftstellers Kleist.Das Ziel immerhin steht fest. Es war das, was Kleist, der „Ankündigungsakrobat“ (Hermann Kurzke), immer hatte, aber zeitlebens nie erreichte. Das Glück. Einen Platz zu finden, eine Existenz im Riss, der sich gerade in der Gesellschaft auftat und in dem Kleist herumrandalierte und zugrunde ging – dem zwischen bürgerlicher Pflichterfüllung und künstlerischer Freiheit.
Sie würden stolz sein über das, was er da in Würzburg vorhabe, so es denn gelänge, schrieb er seiner Halbschwester Ulrike und seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge. Möglich, dass er den Stadt-Chirurgus aufsuchte, um sich von einer Vorhautverengung zu befreien und Wilhelmine auch körperlich glücklich machen zu können. Möglich, dass er sich mittels Mesmerisierung von seinem Stottern befreien wollte. Möglich, dass er bei den Freimaurern Beziehungen knüpfen wollte. Möglich, dass er mathematische Theorien zum Glücksspiel ausprobieren und durch Würfeln reich und unabhängig werden wollte.  
Möglich, dass er sich in Berlin von Carl August von Struensee, dem preußischen Minister für Akzise-, Zoll-, Kommerzial- und Fabrikwesen, als Industriespion für Preußens Textilindustrie hatte anheuern lassen – um die Rezeptur für das heute als Schweinfurter Grün bekannte Pickelgrün zu stehlen, eine Farbe, die so giftig war, dass Maler (van Gogh zum Beispiel) Pickel bekamen, die aber Pickelgrün hieß, weil sie vom Würzburger Chemieprofessor Johann Georg Pickel erfunden wurde.
Möglich, dass das alles zutrifft. Herr Klingstedt zeigt sich in den Briefen eben nicht nur als Ankündigungsakrobat, sondern als vollendeter Verschleierer seiner Selbst. Das Einzige, von dem man mit einiger Sicherheit konstatieren kann, dass es sich zwischen dem 9. September und dem 27. Oktober des Jahres 1800 in Würzburg ereignet hat, ist der Urknall des Schriftstellers Heinrich von Kleist.

via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article202532390/Actionszenen-der-Weltliteratur-Heinrich-von-Kleist.html

Keine Kommentare: