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Montag, 16. September 2019

Nachruf auf György Konrád / Lothar Müller. SZ 15.09.2019

Die Eisenwarenhandlung seines Vaters in der Ortschaft Berettyóújfalu in der ostungarischen Provinz hat György Konrád mehrfach beschrieben. Am rechten Türpfosten war die in einem Perlmuttzylinder steckende Pergamentrolle mit dem handgeschriebenen Hauptgebet für den Freitagabend angenagelt: "Höre Israel, der HERR ist einzig und ewig." Darunter befand sich eine Metalltafel, die das historische Ungarn in den Grenzen von 1914 zeigte. Darauf waren die Gebiete eingeschwärzt, durch deren Verlust im Vertrag von Trianon Ungarn 1920 auf dreißig Prozent seines vormaligen Territoriums geschrumpft war. Die Tafel gab die Losung aus: "Nie, nie niemals!" In diesem Türpfosten fand die Überzeugung der alteingesessenen, gutbürgerlichen Familie Ausdruck, zugleich als gute Ungarn und als gute Juden leben zu können.
Als György Konrád Anfang April 1933 geboren wurde, war in Deutschland Adolf Hitler seit zwei Monaten an der Macht. Im Elternhaus in Berettyóújfalu hörte das fünfjährige Kind beim "Anschluss" Österreichs an Deutschland die Stimme Hitlers im Radio. Nicht lange nachdem im März 1944 die Deutschen Ungarn besetzt hatten, wurden die Eltern verhaftet und nach Österreich verbracht. In dem autobiografischen Roman "Glück" (2001, deutsch 2003) hat Konrád berichtet, wie ihm gemeinsam mit seiner älteren Schwester und drei Vettern die Flucht nach Budapest gelang, einen Tag vor Beginn der Deportation der Juden von Berettyóújfalu, die für die meisten mit dem Tod in Auschwitz endete. Die Eltern kehrten zurück, aber der Vater verlor im Nachkriegsungarn die Eisenwarenhandlung an den sozialistischen Staat.
Ein kleine Anthologie von Lobliedern auf die Großstadt - auf Budapest, Berlin, New York - ließe sich aus Konráds Essays und Romanen herausschreiben. "Die Großstadt ist die höchste Entwicklungsstufe der Freiheit." "Die Städte sind die Rechtfertigung des Menschengeschlechts." Meist ist es der Kosmopolit und leidenschaftliche Spaziergänger, der solche Sätze formuliert. Aber wenn er über die Donaubrücken schreibt oder feststellt, die Unterscheidung von linkem und rechtem Ufer gelte für Budapest mehr noch als für Paris, ist im Hintergrund immer auch die Erfahrung des Jungen aus Berettyóújfalu anwesend, dass die Großstadt ein Ort ist, an dem man sich gut verstecken kann. Eine ihrer Bestimmungen ist die, Zufluchtsort zu sein.
Seit den späten Sechzigerjahren ging der Romanautor, Soziologe und Essayist György Konrád daran, die Berufstätigkeit zu entfalten, die er einmal so beschrieb: "Budapest-Forscher, Liebesforscher, Freiheitsforscher, Verbrechensforscher, Todesforscher, Gottesforscher, Spaziergänger." Die frühen Romane Konráds waren Retrospektiven auf misslungene Lebensläufe, zugleich Collagen aus Innenansichten von Institutionen. Das Debüt, "Der Besucher" (1969), nahm die Ausgesonderten und Randgruppen des Sozialismus in den Blick, "Der Stadtgründer" die Planungsbürokratie, in "Der Komplize" (1980) ließ ein Insasse der Psychiatrie in panischem Wirbel sein von Krieg und Arbeitslager früh lädiertes Leben an sich vorbeiziehen. In die Romane waren berufliche Erfahrungen ihres Autors eingegangen, der im Jugendschutz, als Stadtsoziologe und zeitweilig in einer Nervenanstalt gearbeitet hatte. Gewaltakte, Verletzungen, Zusammenbrüche gingen hier nicht auf das zähe Erbe der alten Gesellschaft zurück, sondern unmittelbar aus der neuen, sozialistischen Gesellschaft hervor. Rasch geriet Konrád in Konflikt mit dem Machtapparat. Die zusammen mit Iván Szelényi verfasste Studie "Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" führte 1974 zur Verhaftung beider Autoren, die nach internationalen Protesten aber aufgehoben wurde. ... [mehr] https://www.sueddeutsche.de/kultur/gyoergy-konrad-nachruf-holocaust-1.4601282

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