Es gibt eine grosse, fundamentale
Frage, die der Philosoph Immanuel Kant einmal formuliert hat. Was ist
der Mensch? Man kann, wenn man das Buch des Journalisten Juan Moreno zu
Ende gelesen hat, jenes Mannes, der den «Spiegel»-Fälscher und
Branchen-Star Claas Relotius mehr oder minder im Alleingang entlarvte,
eine ziemlich düstere Antwort formulieren. Sie lautet: Der Mensch ist
das Wesen, das die Lüge liebt, bestätigungssüchtig, gefangen im Kokon
der eigenen Vorurteile, von denen er auch dann nicht lassen will, wenn
sich die Realität längst laut dagegen sperrt.
Was
ist passiert? Juan Moreno, freier Autor des «Spiegels», hat einen der
grössten Medienskandale in Deutschland aufgedeckt, Claas Relotius, einen
gefeierten, mit Preisen überhäuften Reporter als Hochstapler
demaskiert. Und er hat mit seinem neuen Buch, «Tausend Zeilen Lüge», ein
Lehrstück verfasst, das von der Manipulationsanfälligkeit des Menschen
handelt (und letztlich, aber dazu später, auch von der Möglichkeit, dem
Irrtum und der Illusion zu entkommen).
Juan Moreno und Claas Relotius wurden beauftragt, gemeinsam eine
Reportage zu schreiben. Der eine (Moreno) zog mit einem Flüchtlingstreck
von Mexiko kommend in Richtung der amerikanischen Grenze, der andere
(Relotius) sollte eine Bürgerwehr und Gruppe von Trump-Fans
infiltrieren, die die Grenze sichern will. Das katastrophale, schon von
Klischees vernebelte Briefing, das der Ressortleiter Matthias Geyer per
Mail an die beiden Autoren verschickt, muss man auszugsweise zitieren.
«Die Figur für den ersten Konflikt beschreibt Juan in dem grossen Treck.
Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus
einem absolut verschissenen Land, in dem ihr das Leben unmöglich
geworden ist. (. . .) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt
Claas. (. . .) Dieser Typ hat selbstverständlich Trump gewählt (. . .)
und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, so wie Obelix sich auf
die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.» Dann zum Schluss der
Satz: «Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des
Jahres.»
Moreno ist verärgert über diesen Zwang zur Zusammenarbeit mit Relotius,
der die Geschichte dann auch noch als der vermeintlich bessere Autor
zusammenschreiben soll und der ihm dann, als er selbst seine
Reportageelemente liefert, Regieanweisungen erteilt, um das Erzählte
aufzupeppen. Da macht er nicht mit. Wehrt sich. Beginnt seinerseits die
Passagen von Claas Relotius zu prüfen. Entdeckt Fehler, Ungereimtheiten,
Übertreibungen. Meldet die seinem Ressortleiter Matthias Geyer, der ihm
nicht glaubt, ihm zwischen den Zeilen zu verstehen gibt, dass er, der
vermeintliche Anschwärzer, hier gerade seine eigene Karriere beerdigt.
Recherchiert schliesslich auf eigene Faust. Belegt, dass die
Relotius-Reportage von Bürgerwehrmilizen, die schon mal beiläufig auf
Mexikaner feuern, die sie in der Dunkelheit der Grenzregion vermuten,
absolut nicht stimmen kann. Meldet sich erneut bei seinem Ressortleiter
und dem designierten «Spiegel»-Chef Ullrich Fichtner.
Und wieder glaubt man ihm nicht. Hält die Beweise, die er liefert, nicht
wirklich für beweiskräftig und vertraut lieber den geschickten, so
raffiniert komponierten Erwiderungen und den gefälschten Mails des
Starautors Claas Relotius. Einen «Jahrhundertjournalisten» nennen ihn
manche in der Redaktion. Über 40 Auszeichnungen hat er erhalten. Er soll
mit Anfang 30 Ressortleiter werden. Manche trauen ihm noch höhere
Positionen zu, nennen ihn gar die Zukunftshoffnung des Magazins. Und
seine Chefs klammern sich bis zum absolut endgültigen Beweis des
Gegenteils an die Illusion seiner Integrität. Bis alles zusammenbricht
und Relotius gesteht. Dann explodiert der Skandal am 19. Dezember 2018
und wird vom Magazin selbst öffentlich gemacht, später durch den
schonungslosen Bericht einer Untersuchungskommission ergänzt. 60 Texte
hat Relotius für den «Spiegel» und zahllose Geschichten für andere
Medien verfasst. Etliche sind gefälscht, voller Fehler, erfundener
Figuren, gefakter Interviews. Relotius hat das Magazin in seine grösste
Krise gestürzt.
Wird nicht, so fragen
alsbald schadenfrohe Lügenpresse-Rufer, ohnehin überall gelogen,
getrickst und retuschiert? Das ist eine furchtbare Frage zum denkbar
ungünstigsten Zeitpunkt. Viele Zeitungen und Zeitschriften verlieren an
Auflage und Anzeigen und sind auf die Solidarität und das Vertrauen des
Publikums angewiesen wie nie zuvor. Schon allein deshalb ist die maximal
transparente Selbstaufklärung des Skandals so wichtig.
Was
also zeigt der Fall? Zum einen wird hier die eigentümliche Magie des
Hochstaplers greifbar, der lockt, schmeichelt, blendet, die Erwartungen
des Gegenübers erspürt, um sie dann zu bedienen und seine Geschichten
von fernen, kaum zugänglichen Orten entlang von gefühlten Wahrheiten zu
fingieren. Relotius hat sie alle eingeseift: seine Chefs, die
Faktenchecker der Dokumentationsabteilung und selbst diejenigen Leser,
die gravierende Fehler in seinen Reportagen entdeckten und die er dann
so lange in Gespräche verwickelte, bis sie ganz entzückt waren von
diesem so klugen und umgänglichen Menschen.
Zum anderen aber ist dieser Fall keineswegs typisch für «die» Branche,
sondern offenbart die offene Flanke und die Korrumpierbarkeit des Star-
und Edelfederjournalismus – eines Mini-Segments, das traditionell viel
Aufmerksamkeit bekommt. Denn deutlich wird: Ein Claas Relotius, Prototyp
des sensiblen Schönschreibers, macht jenen, die unbedingt mehr sein
wollen als einfache Arbeiter im Bergwerk der Textproduktion, das Angebot
der Selbsterhöhung. Er lässt sie Teil einer Bewunderungsgemeinschaft
werden, einer narzisstischen Blase, in der man sich im Rausch eines
existenziellen Pathos wechselseitig zu bestätigen vermag, wie herrlich
bedeutend man doch ist oder zumindest sein könnte. Den Schrecken der
Welt beschreiben, für das Gute einstehen, die Menschen zu Tränen rühren –
und dann auch noch Glamour, Geld und alle paar Wochen eine Preisgala,
auf der man im eng geschnittenen Anzug den nächsten Pokal entgegennimmt,
um in bedrückten Worten nicht vom eigenen Werk, sondern von den Toten
in Syrien zu reden?!
Claas Relotius war eine Rollen- und Karrierehoffnung für all jene, die
eigentlich nicht wirklich Journalisten sein wollen, sondern
Schriftsteller, Künstler, Magier des Wortes. Er verkörperte den
elegantesten und aufregendsten Ausbruch aus dem Dienstleistungsgeschäft
der Nachrichten- und Informationsvermittlung, den man sich vorstellen
kann. Fakten? Welche Fakten? Und wer will nicht ein wenig mitträumen,
wenn gerade ein faszinierendes Mischwesen aus Joan Didion, Hunter
S. Thompson und Tom Wolfe vorbeiflattert? Es ist kein Zufall, das Claas
Relotius von Juan Moreno enttarnt wurde, einem klugen und kantigen
Inside-Outsider, der nicht so ganz dazugehörte und der, wie er selbst
schreibt, gar nicht wusste, dass der von ihm Verdächtigte in der
Redaktion längst als eine Art Heiligenfigur des literarischen
Journalismus galt. Moreno, Sohn andalusischer Bauern, den der
«Spiegel»-Pförtner auch nach zehn Jahren beim Magazin schon mal für den
Taxifahrer hielt, besass die nötige Distanz.
Hatte Relotius eine ideologische Agenda? Moreno verneint dies. Er
porträtiert den Fälscher vielmehr als eine chamäleonhafte Existenz und
einen, der im Zweifel jedem Medium, für das er schreibt, den passend
wirkenden Sozialporno liefert. Stets ging es ihm um grosse Gefühle,
emotionale Dominanz und die Selbsterhöhung durch die ganz besondere
Story, dies mitunter auch im direkten Umgang mit Kollegen. So lehnte er
zunächst eine Festanstellung beim «Spiegel» ab und erzählte den
verblüfften Redakteuren, er müsse am Morgen und am Abend seine
krebskranke Schwester pflegen, die er sehr liebe, aber die es eben, wie
sich irgendwann herausstellte, gar nicht gab.
Kurzum: Relotius
erscheint als jemand, der Märchen für Erwachsene fabriziert, die vor
allem dramatisch sind, einfach und klar. «Für Claas lege ich meine Hand
ins Feuer», so sagt der Dokumentar, den Relotius wieder und wieder nach
seiner kranken Mutter fragt, um sich dann mit drei verschiedenen
Koranübersetzungen oder irgendwelchen skrupulös wirkenden Detailfragen
als ein absolut ernsthafter Reporter in Szene zu setzen, der er nie war.
–
Was ist der Mensch? Er ist das Wesen, das Geschichten erzählt, von
denen manche stimmen und andere nicht. Claas Relotius, Dompteur der
Wirklichkeit, Produzent höchst effektiver Preiserwartungsprosa, erfindet
entlang von Klischees, aus denen der Kitsch trieft –
Erweckungserlebnisse in Serie, David-gegen-Goliath-Bullshit,
Heldenreisen, das traurige Lied, das stets im richtigen Moment erklingt.
Als er aufflog, so erzählt man sich, habe er seine Preispokale in eine
blaue Ikea-Tüte gepackt und vor dem «Spiegel»-Gebäude in die Elbe
geschmissen.
Ob das stimmt? Wer
weiss. Sein Gegenspieler Juan Moreno schreibt seit 20 Jahren Reportagen.
Er hat noch nie einen Preis für seine Texte bekommen und doch die Ehre
des «Spiegels» und der gesamten Branche verteidigt. Sein Buch wird man
auch nach Jahren noch lesen – als Musterbeispiel des investigativen
Medienjournalismus, als meisterhafte Analyse menschlicher
Manipulationsanfälligkeit und als erschütternde Parabel über den Felix
Krull des literarischen Journalismus. Wie entkommt man der Illusion?
Vielleicht ist alles ganz einfach. Man darf nicht allzu sehr dazugehören
wollen.
Bernhard Pörksen
ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.
Zuletzt ist von ihm erschienen: «Die grosse Gereiztheit. Wege aus der
kollektiven Erregung» (2018).
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