Vermutlich war es gut gemeint, vielleicht gedankenlos naiv, auf jeden
Fall folgenschwer: Anfang September 1939 traf an August Dickmanns
Heimatadresse in Dinslaken sein Wehrpass ein. Seine Frau sandte das
amtliche Dokument an seinen aktuellen Aufenthaltsort nach. Ins
Konzentrationslager Sachsenhausen.
Am Freitag, 15. September, hatten im KZ nördlich von Berlin die
Häftlinge früher als sonst Feierabend. Als sie nach der Zwangsarbeit im
Lager eintrafen, stand auf dem Appellplatz eine aus dicken Bohlen
gezimmerte Doppelwand mit Sandsäcken im Zwischenraum, davor eine große
schwarze Kiste.
Der Lagerälteste Harry Naujoks, Kommunist aus Hamburg, berichtete
später von einer Inszenierung wie ein "großes Schauspiel". Die rund 8000
Häftlinge nahmen Aufstellung, Hunderte mit einem violetten Dreieck an
ihrer Kleidung wurden nach vorn in die erste Reihe gerufen. Um sie herum
bauten sich SS-Wachmannschaften auf.
Dann wurde aus dem Zellenbau ein an den Händen gefesselter Mann vor
die Holzwand geführt: August Dickmann. Aus den Lautsprechern drang die
Stimme des Lagerkommandanten Hermann Baranowski. Er verlas die
Exekutionsanordnung, woraufhin Schützen auf Kommando Feuer gaben und der
29-jährige Arbeiter aus Dinslaken zusammenbrach. Auf ein Zeichen
Baranowskis sprang dessen Adjutant Rudolf Höß, später Auschwitz-Kommandant,
herbei und schoss dem am Boden Liegenden in den Kopf. Vier aus der
ersten Reihe, einer davon Augusts Bruder Heinrich Dickmann, bekamen den
Befehl, ihn in den Sarg zu legen und fortzuschaffen.
Presse und Rundfunk des Deutschen Reichs berichteten am folgenden
Tag, zwei Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, von der ersten
öffentlichen Exekution eines Mannes, der sich geweigert habe, "seine
Pflicht als Soldat zu erfüllen". Dickmann wurde als "fanatischer
Anhänger der internationalen Sekte der Ernsten Bibelforscher"
bezeichnet.
Die Schau-Hinrichtung war als Abschreckung gedacht. Dass sie diese
Wirkung komplett verfehlte, sollte Baranowski bereits am selben Abend
begreifen. Andere NS-Institutionen arbeiteten sich noch über Jahre an
einer - wie Max Bastian, Präsident des Reichskriegsgerichts, sie nannte -
"eigenartigen Kategorie Menschen" ab. Exekutiert wurde in diesen Fällen
nicht mehr öffentlich.
Das Phänomen Kriegsdienstverweigerung hatte die Nazi-Justiz
überrascht. Das deutsche Militärstrafgesetzbuch von 1872 kannte nicht
einmal den Begriff. Es gab Strafmaßnahmen gegen Deserteure,
Simulanten oder Selbstverstümmler, gegen Männer also, die sich auf
verschiedene Weise dem Wehrdienst entziehen wollten. Völlig neu war
hingegen, dass sich jemand offen dazu bekannte und erst gar keinen
Versuch unternahm, einer Strafe zu entgehen. Wie die Zeugen Jehovas.
In Deutschland waren sie unter dem Namen "Ernste Bibelforscher"
bekannt und dafür, dass sie jeglichen Wehrdienst ablehnten. In
Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg hatte die Militärjustiz diese
Haltung vorsorglich zum Delikt der "Wehrkraftzersetzung" erklärt, worauf
die Todesstrafe stand.
August Dickmann betraf das eigentlich nicht, zu Kriegsbeginn saß er
bereits in Haft. Hunderte Zeugen Jehovas waren ab 1936 in
Konzentrationslager verschleppt worden, weil sie - wie Dickmann - trotz
Verbot ihre Missionierungen fortgesetzt hatten. Sie taten es auch in den
Lagern und wurden daher gekennzeichnet und separiert durch das Dreieck
an ihrer Kleidung, den sogenannten Lila Winkel. Arbeit in Strafkolonien
und Misshandlungen sollten sie unter Druck setzen, eine
"Verpflichtungserklärung" zu unterschreiben, die ihnen die Entlassung in
Aussicht stellte, sofern sie sich von ihrem Glauben lossagten. ... [mehr] https://www.spiegel.de/geschichte/kriegsdienstverweigerer-hinrichtung-von-august-dickmann-zeuge-jehovas-a-1286598.html
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