1516 wird in der flämischen Universitätsstadt Löwen ein Buch gedruckt,
das wie kaum ein anderes Werk das Denken ganzer Epochen beeinflusst hat.
Der Roman »Utopia« des englischen Humanisten, Staatsmanns und Heiligen
Thomas Moore, auch Morus genannt, der 1535 unter König Heinrich VIII.
hingerichtet wurde, begründete eine europäische Denktradition, die noch
immer lebendig ist. Zugleich war es die Geburtsstunde eines neuen
Begriffs, der kontroverser nicht sein könnte. Unter einer Utopie wird
heute landläufig die Idee eines bestimmten gesellschaftlichen
Idealzustands verstanden, der in den Augen seiner Anhänger nicht nur
wünschenswert, sondern auch erreichbar ist. Am Beginn stand jedoch ein
anderer Ansatz. Blickt man die vergangenen fünf Jahrhunderte zurück, so
offenbart sich die wechselvolle Geschichte der Utopie als die Geschichte
eines großen Missverständnisses. So viel vorweg: Thomas Morus war – im
heutigen Sinne – kein Utopist.
Der Roman, mit dem alles begann, erzählt davon, wie Morus gemeinsam mit
einem Freund in Antwerpen auf den weit gereisten Seefahrer Raphael
Hythlodeus trifft. Schnell entspinnt sich ein Gespräch, in dem scharfe
Kritik an der Politik der europäischen Fürsten, dem Klerus, den
Höflingen und den sozialen Verhältnissen in England geübt wird.
Hythlodeus gibt den englischen Großgrundbesitzern die Schuld an der
massenhaften Verarmung der Bevölkerung und dem Anstieg der Kriminalität.
Ganz anders hingegen seien die Dinge auf der fernen Insel Utopia
gelaufen, von der der Seefahrer im zweiten Teil des Romans erzählt.
Hythlodeus stellt den von ihm bereisten Inselstaat als ein ideales
politisches Gebilde vor, in dem all die genannten europäischen
Missstände unbekannt sind. Utopia wird beschrieben als eine wohlhabende,
kommunistisch anmutende Republik, in der es kein Privateigentum gibt,
allgemeine Arbeits- und Schulpflicht herrscht, Gold und Luxus verpönt
sind und die Macht der Geistlichen starken Einschränkungen unterliegt –
eine Insel der Glückseligen, deren Staatswesen einzig auf Vernunft
gegründet und dem Allgemeinwohl verpflichtet ist. ... [mehr] https://www.spektrum.de/news/die-utopie-geschichte-eines-missverstaendnisses/1658566
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