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Freitag, 5. Juli 2019

Eines der großen Rätsel der Literaturgeschichte: Petrarca auf dem Mont Ventoux

Am Abend des 24. April 1336 erreichen Francesco Petrarca, sein Bruder Gherardo und zwei Diener das Basislager in Malaucène. Akklimatisieren müssen sie sich nicht, sie gönnen sich dennoch einen Tag Ruhe. Den Aufstieg zum Gipfel wagen sie am 26. April. „Ein langer Tag, liebkosende Luft“, erinnert sich Petrarca, „einzig die Beschaffenheit des Ortes bot uns Widerstand.“
Verglichen mit den Gipfeln der Alpen mag der Mont Ventoux kein hoher Berg sein, seine Kargheit jedoch und der zehrende Mistral, der dem Giganten der Provence den Beinamen „der Windige“ eingetragen hat, machen den Berg zu einem unwirtlichen Ort. Petrarca erlebt „eine schroffe und beinahe unzugängliche Felsmasse“.
Und ausgerechnet er, dessen „ungestümes Verlangen“ die Seilschaft ohne Seil erst auf den Weg gebracht hat, gerät beim Aufstieg bald in Schwierigkeiten. Gherardo strebt geradewegs bergan, Francescos Aufstieg hingegen verläuft künstlertypisch mäandernd, bis er die Höhe um den Preis der Erschöpfung „auf direktem Wege“ nimmt.

Faustgroßer Augustinus


Den Gipfel des Ventoux und sein kleines Plateau erreichen die Brüder schließlich gemeinsam. „Wolken lagen zu meinen Füßen“, berichtet Petrarca, und von 1900 Meter Höhe kann er sogar die eisstarrenden Alpen sehen – „ganz nah, obwohl sie weit entfernt sind“.
Dann jedoch geschieht etwas Seltsames: Petrarca erstickt den Entdecker in sich. Er wendet den Blick von der überwältigenden Natur und zieht seinen Augustinus aus der Tasche, „ein faustgroßes Werklein, von winzigstem Format“.
Noch auf dem Gipfel beginnt er über die Sünde der Augenlust zu lesen und über Menschen wie ihn, die „die Höhen der Berge“ bewundern und dabei sich selbst „verlassen“.

Wortlos und wie betäubt steigt Petrarca danach vom windigen Ventoux herab, um im Basislager von Malaucène noch in derselben Nacht einen langen Brief an seinen Theologieprofessor zu schreiben, das einzige Zeugnis der Besteigung, das es gibt.

Der allegorische Berg

„Den höchsten Berg dieser Gegend … habe ich am heutigen Tag bestiegen“, fängt er an, um im nächsten Halbsatz zu beichten, allein der Drang, „diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“, habe ihn dabei beseelt. Ein geschundener, erschütterter Petrarca in einer Schenke in Malaucène: Hier endet die Geschichte. Oder besser: Hier fangen die Zweifel an. Denn die Intellektuellen wollen Petrarca nicht mehr glauben.
Während der berühmte Jacob Burckhardt in Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux noch den entscheidenden Schritt über die Schwelle zur Neuzeit sah und den frommen Beichtbrief an den Theologen noch als bloßen Trick gedeutet hat, der das mittelalterliche Weltbild ein letztes Mal zum Schein bestätigt, haben spätere Deuter den Spieß schlicht umgedreht: Petrarca sei nie auf dem Berg gewesen, der Mont Ventoux sei eine bloße Allegorie – genauso übrigens wie die berühmte Laura, die Petrarca auch bloß erfunden habe.


Zwischen den Epochen

Nie habe sich Petrarca in der Schenke von Malaucène an den Tisch gesetzt, um einen so meisterlich ausgeformten Brief zu schreiben. Der Brief sei wesentlich älter, sein Adressat, als Petrarca anhob, ihm den vermeintlichen Gipfelsturm zu beichten, lange tot, und was das Naturverständnis dieses allegorischen Kunststücks angehe: Petrarca habe die Revolution gesehen und schreibe als Reaktionär.

Und was stimmt? War Petrarca oben oder nicht? Der Philosoph Hans Blumenberg hat von einem „der großen, unentschieden zwischen den Epochen oszillierenden Augenblicke“ gesprochen. Wir aber, die wir die Action lieben, sind uns sicher: Petrarca hat das Andere der eisstarrenden Alpen mit eigenen Augen gesehen.

via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article196336817/Actionszenen-der-Weltliteratur-16-Petrarca.html

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