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Mittwoch, 17. Juli 2019

Das Staunen der Elena Ferrante: Von der Eskalation der Anonymität / literaturcafe.de 16.07.2019

Nachdem auch in Deutschland das Ferrante-Fieber um »Meine geniale Freundin« ausgebrochen war, will jede und jeder wissen, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Das diese Frage scheinbar wichtiger ist als ihre Texte, erstaunt nicht zuletzt die Autorin selbst. Ferrante-Experte Nicola Bardola, der ein Buch über das Phänomen Ferrante verfasst hat, schreibt hier über den »Aufdeckungsvoyeurismus« und was an Elena Ferrante wesentlich wichtiger ist.
Wie ein roter Faden zieht sich eine Klage Elena Ferrantes in den vielen schriftlich geführten Interviews in »Frantumaglia«, einem Band mit Briefen, Aufsätzen und Interviews, der in Italien erstmals 2003 erschien, seitdem zweimal erweitert wurde und seit dem Frühjahr 2019 auch auf Deutsch zu lesen ist (aus dem Italienischen von Julika Brandestini und Petra Kaiser. Suhrkamp Verlag, Berlin. 499 Seiten, 24 Euro): Die bekannteste Unbekannte der Weltliteratur staunt darin immer wieder, dass die Leser so viel Wert auf ihre Identität und vergleichsweise wenig auf die Inhalte ihrer Prosa legen. Sogar mit ihren Verlegern führte Ferrante ein Gespräch über dieses Problem. Ihre Begründungen, warum sie im Hintergrund bleiben will, variieren dabei stark im Verlauf des vergangenen Vierteljahrhunderts.
Elena Ferrantes Drohung, sie werde nach einer möglichen Enttarnung nicht mehr schreiben, hielt einen Journalisten im Oktober 2016 nicht davon ab, der Spur des Geldes zu folgen und Anita Raja als die wahre Elena Ferrante zu bestimmen. Aber seither schreibt Elena Ferrante weiter: Soeben sind ihre gesammelten Essays in Italien erschienen, die sie 2018 ein Jahr lang für den Guardian verfasst hat. Die Zweifel mehren sich, ob tatsächlich die Herausgeberin von Elena Ferrantes Debütroman »Lästige Liebe« (e/o, 1992) Anita Raja, (eventuell mit ihrem Mann, dem Drehbuchautor und Schriftsteller Domenico Starnone) hinter dem Pseudonym steckt. Also geht das Rätselraten, das in Italien schon 1992 begann, munter weiter, wobei im deutschsprachigen Raum die Skrupel groß sind, zumal hierzulande Ferrantes Äußerungen in »Frantumaglia« und die näheren Umstände in Italien noch kaum bekannt sind. Daher führt jede neue Antwort auf die vermutete Identität zu einer Eskalation der Auseinandersetzung um die Anonymität. Das Geheimnis wächst vor allem in den USA, wo der Regisseur der Verfilmung der Tetralogie »Meine geniale Freundin« Saverio Costanzo nun seinerseits interviewt wird: Wie es gewesen sei, mit Ferrante zu korrespondieren und ober er sie persönlich getroffen oder am Telefon gesprochen habe. Costanzo verneint und sagt, wie wichtig Ferrantes Hinweise für seine Regiearbeit seien und dass sie ihm wie ein Geist erschienen sei.
Dass das Mysterium um das Phantom Ferrante den Bekanntheitsgrad des Pseudonyms und dessen Auflagenzahlen erhöht, wussten ihre Verleger in Rom von Anfang an: Auf dem Original-Cover von »Lästige Liebe« ist eine elegant in Rot gekleidete Frau ohne Kopf zu sehen. Es dauerte zehn Jahre bis der zweite Roman Elena Ferrantes »Tage des Verlassenwerdens« erschien. Um Werbung auch aus der Anonymität heraus dafür zu machen, schlugen die Verleger ihrer Autorin vor, die bis dahin vorhandenen Aufsätze und Briefe erstmals zu veröffentlichen. Ferrante zögerte, aber die Verleger machten Druck. Und diesmal waren sie bei der Gestaltung des Umschlags skrupelloser als beim Romandebüt: Mit Zustimmung Ferrantes wurde eines der berühmtesten Gemälde des russisch-jüdischen Künstlers Natan Altman gewählt: Das Porträt der Dichterin Anna Achmatowa von 1914. Allerdings hatte man Achmatowa kurzerhand geköpft, um die Leser sofort auf die Anonymität der Autorin hinzuweisen. Dieses Motiv hatte bis 2016 bestand.
In Unkenntnis dieser und vieler weiterer Umstände, die Ferrantes Anonymität betreffen, sprechen Literaturkritiker von »Aufdeckungsvoyeurismus« angesichts von vielfältigen Versuchen, Ferrantes Identität zu klären. Diese werden vor allem auch im akademischen Bereich vorangetrieben. Linguisten weltweit analysieren und vergleichen mit computergestützten Methoden Ferrantes Texte mit denen möglicher Kandidaten. Damit würden sie der Autorin in den Rücken fallen, lauten manche moralische Urteile. Diese kontrastieren mit dem Mysterium Ferrante als gezielt eingesetztes Marketing-Instrument. So finden sich auf der Webseite des Verlages e/o in Rom zahlreiche Artikel, die versuchen, die Frau hinter dem Pseudonym zu enttarnen: »Ferrante – il giallo«, Ferrante – der Krimi lautet das Motto. Der Verlag hat nach wie vor Freude daran, dass Literaturwissenschaftler und Journalisten das Geheimnis lüften wollen.
Aber natürlich ist es ertragreicher und wichtiger, sich auf die Inhalte, auf das Werk Elena Ferrantes zu konzentrieren. Wie steht es beispielsweise um den zentralen Begriff in Ferrantes Werk »smarginatura«, womit die Anfälle Lilas bezeichnet werden, wenn sie das Gefühl hat, sich aufzulösen? Die Ferrante-Forschung geht bislang davon aus, sie habe den aus der Drucktechnik stammenden Begriff als erste in psychologischem Kontext verwendet. Doch es gibt Gegenbeispiele. Wie steht es um die fehlenden Danksagungen und Widmungen in allen Büchern Elena Ferrantes? Wie steht es um die Klauseln (»… alle Figuren sind frei erfunden …«) in der Tetralogie, die im Original viel ausführlicher sind als in den Übersetzungen? Oder wie steht es um das Verhältnis Ferrantes zur Camorra? Und vor allem: Was macht die weltweite Faszination von Ferrantes Werk in literarischer Hinsicht aus? Es gibt so viele interessantere Themen als das Pseudonym. Sich mit ihnen zu beschäftigen, sollte den Schwerpunkt jeder Auseinandersetzung mit Elena Ferrante bilden.
Nicola Bardola

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