Follower

Freitag, 19. Juli 2019

They Shall Not Grow Old / GB/NZ 2018 R: Peter Jackson

Mit dem Ersten Weltkrieg begann am 28. Juli 1914 das erste Kapitel industrieller Kriegsführung. Am Ende des mit völlig neuartigen schnellfeuernden, explosiven und chemischen Waffen geführten Konflikts standen geschätzte 17 Millionen Todesopfer, davon 10 Millionen Soldaten. Es war zugleich der erste Krieg, der in Form von Wochenschau- und Propagandaaufnahmen vom noch jungen Medium Film begleitet und dokumentiert wurde. Dennoch verschwindet das historische Ereignis zusehends hinter den "Nebeln der Geschichte". Dazu trägt auch die von Jahr zu Jahr schwindende Qualität des oft mehrfach kopierten Filmmaterials bei und der graue Eindruck der Schwarz-Weiß-Bilder. Gerade für ein jüngeres Publikum wirken Filme ohne Farbe, noch dazu ohne Ton, als Bewegtbild-Quellen des Krieges wenig anschaulich. Mit der technischen Neubearbeitung von 600 Stunden Filmmaterial des Imperial War Museum in London soll der Dokumentarfilm They Shall Not Grow Old diesen Eindruck grundlegend verändern – auf der Tonspur umfangreich kommentiert von Zeitzeugen-Interviews aus dem BBC-Archiv. Der neuseeländische Regisseur Peter Jackson, dessen Großvater in der britischen Armee diente, verlässt sich damit auf eine konsequent britische Perspektive. Seine Botschaft wirkt gleichwohl zwingend: Der Erste Weltkrieg war nicht schwarz-weiß, und schon gar nicht stumm.
Jackson gibt dem Publikum allerdings Zeit, sich an das Vorhaben zu gewöhnen. Im historischen Bildformat 1.33:1 (4:3) erscheinen zunächst Bilder von der britischen Mobilmachung, der Uniformierung der Freiwilligen und ersten Marschübungen. Der Modus erinnert noch an das gewohnte Bild der Wochenschauen. Die Überblendung mit Plakataufrufen ("Join the Army!") soll zugleich deutlich machen: Es handelt sich um Propagandamaterial, gefertigt in der Absicht auch der zivilen Mobilmachung gegen einen äußeren Feind. Erst mit dem Eintreffen der Truppen an der französischen Westfront weitet sich das Bild auf Breitwandformat (16:9) – und die nun kolorierten und auch vertonten Bilder entfalten ihre volle Wirkung. Erstmals sieht man die Ereignisse von vor über 100 Jahren in Farbe.
Das Resultat ist beeindruckend. Das eben noch so ferne Geschehen in den Schützengräben wird auf unheimliche Weise lebendig. Die Farbgebung und die atmosphärische Anreicherung mit Geräuschen bringen, beim Anblick der Soldaten und ihrer Gesichter, zweifellos eine emotionalere Rezeption hervor. Am Anfang ihrer Kriegserfahrung steht das zermürbende Warten im Hinterland. Die Soldaten werden trainiert und verpflegt, plagen sich mit erbärmlichen hygienischen Bedingungen. An der Front angekommen, fordern erste Kämpfe ihre Opfer, die Bilder der Leichen sind mit einer Tonspur aus summenden Fliegen und fiependen Ratten unterlegt. Um diese durchaus nicht nur propagandistischen Bilder – einige stammen aus dem filmhistorisch bedeutsamen Werk The Battle of the Somme (GB 1916) – der heutigen Bildgeschwindigkeit anzupassen, von ursprünglich meist 16 Bildern auf 24 Bilder pro Sekunde, wurden durch Berechnungen am Computer digitale Zwischenbilder erstellt. Zusätzlich konvertierte Jackson die Aufnahmen mit moderner Software zu einem 3D-Effekt mit räumlicher Tiefe. Für die Kolorierung von Uniformen, Waffen und Gerätschaften waren umfangreiche Recherchen an den Originalen nötig, jedes sichtbare Regimentsabzeichen gab wichtige Hinweise. Lippenleser dechiffrierten das gesprochene Wort.
Die gleiche Sorgfalt widmet Jackson, bekannt für die digitalen Wunderwelten seiner Herr der Ringe-Trilogie, der Dramaturgie seiner Bilder und Töne – die gesamte Dokumentation ist letztlich montiert wie ein Spielfilm. Dies wird besonders deutlich an den Schlachtszenen, die sich bald, unterlegt mit Detonationsgeräuschen und dem Stöhnen der Sterbenden, zu einem dramatischen Crescendo steigern. "Die Leiter hoch, raus aus dem Graben, drauf auf die Deutschen!" Mit erschütterndem Vorher-Nachher-Effekt sieht man in der Folge Bilder in die Kamera lächelnder Soldaten im Wechsel mit am Boden liegenden Leichen – das grausige "Produkt" des Krieges. Die kunstvolle Montage überdeckt allerdings, dass es sich bei den angeblichen Kampfszenen meist um Standbilder, Zeichnungen oder womöglich nachträglich gedrehtes Material handelt. Letzteres war, wie aus der Propagandaforschung bekannt ist, gängige Praxis. ... [mehr] https://www.kinofenster.de/filme/aktueller-film-des-monats/kf1907-they-shall-not-grow-old-film/

Keine Kommentare: