Mit «Moby-Dick» hat Herman Melville ein ebenso emblematisches wie
revolutionäres Werk geschaffen. Naturgewalt prallt auf menschliche
Hybris, eine packende Abenteuergeschichte wird mit Exkursen und
Reflexionen durchschossen – und nicht zuletzt erhebt der Autor zum
ersten Mal ein Tier zum literarischen Titelhelden.
1851 erschienen, war «Moby-Dick»
vierzig Jahre später, beim Tod Herman Melvilles, wie sein Autor fast
vergessen. Einzig in England hatten sich in kleinen Zirkeln stets
Bewunderer dieser «Whaliad» erhalten, die nicht zuletzt dem
Erfahrungshorizont Meer ganz neue Dimensionen erschlossen hat. Erst mit
dem 100. Geburtstag setzte auch in seiner Heimat das «Revival» eines
Autors ein, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Begründern
einer genuin amerikanischen Literatur gehört hatte.
Nochmals
hundert Jahre später ist Melville weltberühmt. Noch berühmter aber,
lässt sich wohl sagen, ist «Moby-Dick». Beziehungsweise Moby Dick. Denn
längst hat sich der Titelheld vom Libretto emanzipiert. Inzwischen wird
mit seinem Namen weltweit Unfug getrieben, vom Gesundheitsprogramm für
übergewichtige Kinder über Plattenlabel, Pizzeria-Ketten, Pornografie
bis zur Geheimdienstoperation, und jahrzehntelang entging kaum ein Wal,
der irgendwie mit Menschen in Berührung kam, dem Los, sogleich Moby Dick
getauft zu werden.
Ein schlimmes Buch
Zweifellos
aber hat diese Übernahme durch die Populärkultur ihre Rückwirkungen auf
den Roman gehabt. Ein Ausdruck davon sind die «Moby-Dick»-Marathons –
Lesungen, die inzwischen über elitäre Zirkel wie das New Bedford Whaling
Museum, wo das Ritual vor einem Vierteljahrhundert ins Leben gerufen
wurde, hinaus breitere Publikumsschichten erreicht haben. Nicht zuletzt
gehört es mittlerweile für Prominenz aller Art zum guten Ton, selber
eins der 135 zumeist kurzen Kapitel vorzutragen. Doch die rund
fünfundzwanzigstündige Übung ist nicht ohne Risiko.
Zum einen sagte Melville selber unmittelbar nach Erscheinen des Romans,
in einem Brief an den bewunderten Nathaniel Hawthorne – dem das Buch
zugeeignet ist –, er habe ein böses, schlimmes, frevelhaftes Buch
geschrieben: «I have written a wicked book». Zum andern ist die Lektüre
alles andere als leicht. Wie eine Teilnehmerin vor ein paar Jahren dem
«New Yorker» sagte, habe das Ganze auch «etwas Furchterregendes wegen
der Sprache des Buchs, der Angst, auf Grund zu laufen bei einem Wort,
das man noch nie vorgetragen hat». Zudem sässen hinten alle die Leute,
die jedes Wort mitläsen, so dass man nichts auslassen könne. ... [mehr] https://www.nzz.ch/feuilleton/moby-dick-den-weissen-wal-fasst-auch-sein-schoepfer-nicht-ld.1495381