Am 23. August 1939 wurde in Moskau der „Hitler-Stalin-Pakt“
unterzeichnet. Wie reagierten Schriftsteller auf diese Zäsur? Johannes
R. Becher feiert Stalin, George Orwell wird dystopisch. Ein Überblick.
Ein beunruhigend aktuell anmutender Kult ums Periphere, eine hyperkultiviert nervöse „Achtsamkeit“ avant la lettre, die vor allem dem eigenen Distinktionsgewinn galt und mit der Verdrängung wirklicher Herausforderungen erkauft war. Vier Jahrzehnte später wird sich der 1933 aus Nazi-Deutschland geflohene Schriftsteller und Individualpsychologe Manès Sperber just an diese Anzeichen westlicher Wirklichkeitsverweigerung erinnern.
Sperber, aus dem österreichischen Ostgalizien stammend und seit 1927 in Berlin ansässig gewesen, lebt seit 1934 in Paris. In seinem Jahrhundertbuch „Bis man mir Scherben auf die Augen legt“ beschreibt er die französische Gestimmtheit vor dem 24. August 1939. An jenem Tag erfuhr die Welt, was am Abend zuvor in Moskau unter dem Segen Hitlers und Stalins die beiden Außenminister Ribbentrop und Molotow ausgehandelt hatten: Einen „deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag“, dem dann am 28. September ein „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ folgte.
Der jüdische Linke Manès Sperber, dem bereits seit den Moskauer Schauprozessen Zweifel am Progressiven der UdSSR gekommen waren, beginnt – weit über die individuelle, quasi nun abgeschlossene Desillusionierung hinaus – Entsetzliches zu ahnen: „Erst nach dieser Aufteilung Polens durch Hitler und Stalin wurde ich dessen bewußt, wie sehr Polens Fall auch stets Unheil für die polnische Judenheit bedeutete.“ Zu persönlichen Konsequenzen infolge des Paktes notiert er beinahe leidenschaftslos: „Stalins Verrat am Antifaschismus befreite mich und viele andere endgültig von der letzten Hypothek, die uns noch an den verrotteten Kommunismus gebunden hatte. Dank jenem Verrat sind wir seit dem 24. August 1939 von ihm so frei, das wir ihn mit der Objektivität eines Mikroben-Forschers betrachten können.“
Beinahe wortgleich äußert sich Sperbers Freund Arthur Koestler, der – anders als Millionen zuerst desorientierter, danach schließlich erneut Stalin-konformer Kommunisten in aller Welt – für sich nun ebenfalls die Reißleine zieht: „Als zu Ehren Ribbentrops die Hakenkreuzfahne auf dem Moskauer Flughafen gehisst wurde und die Kapelle der Roten Armee das ‚Horst-Wessel-Lied‘ spielte: Von da an war mir wirklich egal, ob mich die neuen Verbündeten Hitlers einen ‚Konterrevolutionär‘ schimpften.“
Koestler, desillusioniert zurückgekehrt aus dem Spanischen Bürgerkrieg, war zu dieser Zeit ebenfalls Exilant in Paris und schrieb in jenen Augusttagen an „Sonnenfinsternis“, seinem großen Roman über die Moskauer Schauprozesse. Als er die Nachrichten über den Hitler-Stalin-Pakt hört, legt er einer seiner Figuren, dem stalinistischen Verhörer Gletkin, noch einige Sottisen über vermeintlich „historisch gerechtfertigten Verrat“ in den Mund.
Was Koestler und Sperber zu dieser Zeit noch nicht wussten, was jedoch 1955 der zuvor via Jugoslawien in den Westen geflüchtete Ex-Kommunist Wolfgang Leonhard in seinem faktengesättigten Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ publik machen wird: Um die neuen Nazi-Verbündeten nicht zu verärgern, verschwinden plötzlich aus den Moskauer Kinos antifaschistische Filme, wird der Zeitschriftenvorabdruck von Anna Seghers’ Roman „Das siebte Kreuz“ abrupt gestoppt, werden sogar westliche Berichte über NS-Konzentrationslager zu „imperialistischer Propaganda“ erklärt.
Und der allzeit willfährige Lyriker Johannes R. Becher, nach dem Krieg in der DDR Walter Ulbrichts Kulturminister, klöppelt zum Lobpreis des Paktes Verse, deren Dilettantismus nur noch von ihrer Infamie übertroffen wird: „An Stalin. Du schützt mit starker Hand den Garten der Sowjetunion./ Und jedes Unkraut reißt Du aus./ Du, Mutter Russlands größter Sohn,/ nimm diesen Strauß./ Nimm diesen Strauß mit Akelei/ zum Zeichen für das Friedensband,/ das fest sich spannt/ zur Reichskanzlei.“
In Marseille trifft Sperber dann schließlich Arthur Koestler
wieder, der dem Internierungslager Le Vernet entronnen war, das
Manuskript der „Sonnenfinsternis“ nun bereits auf sicherem Weg nach
London weiß und seinem Freund zum Abschied eine seiner weißen Giftpillen
schenkt – für alle Fälle, um weder den Nazis noch Stalins Häschern in
die Hände zu fallen. Das war keine Paranoia, denn zu dieser Zeit hatte
sich unter den deutschen Flüchtlingen bereits herumgesprochen, dass ihr
Prominentester – das antinazistische Mediengenie Willi Münzenberg – während der Flucht hinunter an die Mittelmeerküste plötzlich verschwunden war.
Hatten
die Nazis zugeschlagen, die den wirkungsmächtigen und lange Jahre von
Moskaus Komintern finanzierten Journalisten seit jeher fürchteten? Oder
war Willi Münzenberg, der nach dem Pakt vom 23. August 1939 einen
aufsehenerregenden Aufsatz mit dem wuchtigen Titel „Der Verräter, Stalin, bist Du!“
veröffentlicht hatte, zu einem weiteren Opfer der Mordkommandos des
sowjetischen Geheimdienstes geworden, die seit Langem auch in Westeuropa
umherstreiften?In London wird dann Arthur Koestler mit George Orwell Freundschaft schließen; ihre Gespräche werden zur Initialzündung der „Animal Farm“, deren wohl beklemmendste Szene den Hitler-Stalin-Pakt letztgültig literarisiert: Durch die Fenster des Herrenhauses sehen die verschüchterten Tiere, wie ihr neuer Anführer, das Schwein Napoleon, und die Seinen mit ihren ehemaligen Feinden lärmen, trinken und schmausen – bis es schließlich Streit gibt und alle Konturen verwischen.
Auch für den 1933 ebenfalls aus Deutschland geflohenen Schriftsteller Hans Sahl war der Hitler-Stalin-Pakt der letzte Augenöffner, um mit dem Kommunismus zu brechen. Welcher Preis der Vereinsamung dafür zu bezahlen war, hat er in seinem Erinnerungsbuch „Das Exil im Exil“ eindrucksvoll beschrieben. Heute ist beinahe vergessen, welche Konsequenzen die Auslieferungsbestimmungen des Paktes für jene Antifaschisten hatten, die nach 1933 gutgläubig in die Sowjetunion geflüchtet waren: Margarete Buber-Neumann etwa wurde aus dem Gulag direkt ins KZ Ravensbrück deportiert (wo sie Franz Kafkas Freundin Milena Jesenská traf und bis zum Tode pflegte.)
Oder Arthur Koestlers Freund Alexander Weißberg, der gefesselt in einem Zugabteil vom sowjetisch besetzten Polen ins Generalgouvernement Polen der Nazis abgeschoben und dort der Gestapo übergeben wurde. Weißberg überlebte und war dann 1950 einer der Hauptzeugen in einem Pariser Verleumdungsprozess gegen Louis Aragons stalinistische Zeitschrift „Les Lettres françaises“, die die Existenz sowjetischer Lager strikt leugnete. Währenddessen provozierten Margarete Buber-Neumanns peinigende Pakt-Erinnerungen den mexikanischen Dichter Octavio Paz, nun seinerseits nicht länger auf kommunistische Geschichtsmythen hereinzufallen. Letztlich also ein Sieg zumindest des Gedächtnisses und der Ethik?
Zu erbaulich, um wahr zu sein. Denn noch im Sommer 2019 schwadronieren prominente SPD-Politiker (was das Ganze doppelt deprimierend macht) von „unserem Nachbar Russland“, der „unserer Konstruktivität“ bedürfe. Als sei Osteuropa nach wie vor aufgeteilt zwischen Deutschland und Russland, als wären Ribbentrops und Molotows damalige Unterschriften auch weiterhin geopolitisch gültig.
via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article198970785/Der-Hitler-Stalin-Pakt-und-seine-Folgen-fuer-die-Literatur.html
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