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Mittwoch, 21. August 2019

Als Diderot in den Knast kam / Tilman Krause. In: WELT 20.08.2019

Kritische Geister konnten im Frankreich des 18. Jahrhunderts leicht mal eingekerkert werden, einfach so, ohne Prozess. Das widerfuhr auch Denis Diderot. Der war geschockt, doch lernte auch daraus. 
„Voltaire verhaftet man nicht“, hat bekanntlich de Gaulle im Hinblick auf Sartre gesagt, als der sich mal wieder mausig machte und 1968 die Revolution ausrief. Weder Sartre noch Voltaire sind denn auch jemals verhaftet worden. Aber ein anderer Vertreter der französischen Aufklärung, dessen literarische Werke, im Gegensatz zu denen von Voltaire, immer noch gelesen werden und dessen Enzyklopädie das Wissen des „siècle des Lumières“ bündelte – Denis Diderot also: der wurde tatsächlich inhaftiert. Es war der schwarze Tag in seinem Leben.
Dazu muss man wissen, dass im Ancien Régime missliebige Personen per „lettre de cachet“ vom Fleck weg in Haft genommen und ohne Prozess ins Gefängnis geworfen werden konnten. Genau so geschah es Diderot. Man schrieb den 24. Juli 1749, als um halb acht Uhr morgens ein Kommissar sowie der Inspektor der Königlichen Zensurbehörde in Diderots Wohnung eindrangen, seine Papiere beschlagnahmten, ihn verhörten und sogleich mitnahmen, um ihn ins berühmt-berüchtigte Chateau de Vincennes vor den Toren von Paris zu bringen, das damals als Staatsgefängnis fungierte. Diderot war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt. Seit vier Jahren lebte er mit Frau und drei kleinen Kindern in der zweiten Etage der Rue de l’Estrapade Nr. 3, ein Haus, das noch heute existiert. Es ist im Süden des Hügels Ste. Geneviève gelegen, hinter dem Pantheon und dem Lycée Henri IV, also dort, wo das Quartier Latin am Lateinischsten ist.
Doch was war Diderots Verbrechen? Nun, er hatte, wie schon manches Mal zuvor, dem Atheismus das Wort geredet und die „guten Sitten“ verletzt. Der für sein Verfahren ausschlaggebende, inkriminierte Text hieß übrigens „Brief über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden“, und was als Erstes von Diderot verlangt wurde, war, sich für ihn zu entschuldigen und Besserung zu geloben.
Doch bei dieser erzwungenen Selbsterniedrigung blieb es nicht. Ohne zu erfahren, was man mit ihm vorhabe und wielange seine Gefangenschaft dauern würde, steckte man den damals bereits bekannten Autor in eine der Zellen im Erdgeschoss des mittelalterlichen Wehrturms in Vincennes, in denen später auch der Marquis de Sade und Mirabeau schmachten sollten. Wobei man sich das Schmachten wohl nicht allzu quälend vorstellen muss. Die Zellen, die man heute besichtigen kann, waren geräumig. Aus einem vergitterten Fenster empfingen sie Tageslicht. Die Gefangenen konnten über einen Flur ins Freie gelangen und in einer Art Sperrbezirk um den Turm herum promenieren. Man durfte sie auch besuchen. Rousseau hat mehrfach beim Häftling Diderot in Vincennes vorbeigeschaut.  
Diderots Haft endete nach drei Monaten so abrupt und unvorhergesehen, wie sie begonnen hatte. Es waren seine Kollegen von der Enzyklopädie, die seine Unverzichtbarkeit für das Unternehmen bei den entsprechenden Adressaten geltend gemacht hatten. Den Ausschlag gaben – damals schon! – wahrscheinlich wirtschaftliche Interessen, denn die ökonomische und nationale Bedeutung der europaweit gekauften Bände des großen Lexikons zeichnete sich bereits ab. Aber Diderot hatte seinen Schock weg. Er wurde nun ein Virtuose im Erfinden von Schreibstrategien, die ihn davor bewahren sollten, mit dem Gesetz erneut in Konflikt zu geraten. Was wir heute an seinen Schriften so besonders reizvoll finden: Die Überführung systematischer philosophischer Reflexionen in Essay und Dialog, sie war ein Ergebnis jenes schwarzen Tages, als die Staatsgewalt seiner freien Existenz (vorübergehend!) ein Ende bereitete. 

via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article198859145/Actionszenen-der-Weltliteratur-Diderot-muss-in-den-Knast.html

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