Am 9. Juni 1865 sitzt Charles Dickens im Zug nach London. Dann fehlen
auf einer Brücke die Gleise, der Zug stürzt ab. Dickens bleibt
unverletzt, er hat ein anderes Problem: Im Zug ist sein größtes
Geheimnis. Am Nachmittag des 9. Juni 1865 rattert Charles Dickens
auf London zu. Aus Frankreich kommend – er ist zuletzt sehr häufig in
Frankreich gewesen, im Januar, im März, Ende April und zuletzt seit Ende
Mai –, hat er in Folkestone einen sogenannten Tidal bestiegen, einen
jener Züge, deren Fahrplan sich noch nach den Gezeiten richtet.
Und vermutlich herrscht auch an diesem Nachmittag in Dickens’ Abteil eher dicke Luft. Anders lässt sich der von Nelly überlieferte Satz „Lasst uns an den Händen fassen und als Freunde sterben“ kaum erklären.
Eine Verkettung menschlicher Fehler – falsch übermittelte Abfahrtszeiten, falsche Abstände bei den Telegrafenmasten, an denen sich ein Bauarbeiter mit Signalflagge orientiert – haben den Zug mit hoher Geschwindigkeit in eine Baustelle rasen lassen. Zehn Insassen sterben. 40 tragen Verletzungen davon.
Dickens, unverletzt, aber gichtkrank, verlässt das Abteil durch das Fenster. Eine zeitgenössische Illustration zeigt ihn sogleich bei den Opfern, denen er seinen Brandy und einen Hut voll Wasser reicht.
Daran allerdings ist nicht der Schock alleine Schuld. Und Nelly Ternan fehlt auch nicht umsonst auf den Bildern, die den mitfühlenden Dickens bei den bedauernswerten Opfern zeigen. In Wahrheit zerrt man sie, leicht an Arm und Hals verletzt, eilig aus dem Zug, wobei sie auch noch Teile ihres Schmucks einbüßt, und schafft sie fort, bevor die Presse Wind bekommt.
Denn natürlich verbindet sie und Dickens, den berühmtesten Schriftsteller der Welt, keine platonische Freundschaft, wie Dickens stur behauptet; natürlich hat er seine Frau Catherine auch nicht wegen häuslicher Differenzen verstoßen; und natürlich ist er zuletzt auch nicht einfach so alle vier Wochen nach Frankreich gereist. Stattdessen hat er, nach allem, was sich heute noch erschließen lässt, Nelly in höchster viktorianischer Not dorthin geschafft.
via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article198553287/Actionszenen-der-Weltliteratur-Charles-Dickens.html
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