20. Juni 1901, abends, sechs Uhr: Endlich bekommt der Schiffsjunge Hans Bötticher aus Leipzig die Erlaubnis, an Land zu gehen. Mehr als eine Woche liegt die Bark „Elli“ in Belize, Hauptstadt der Kronkolonie Britisch-Honduras. Bötticher will fliehen, egal wohin.
Er ist vorbereitet, trägt zwei Hemden, zwei paar Strümpfe, den leinenen Arbeitsanzug und den blauen Ausgehanzug übereinander, dazu die besten Schuhe, Uhr, Taschenmesser, Tabakspfeife, Fotos, sein kostbares Tagebuch. Kapitän Pommer gibt ihm und einem Kameraden zwei Dollar. Um neun Uhr sollen sie zurück sein, wegen der Strömung, drei Stunden bis Rückkehr.
Bötticher, knapp 18 Jahre alt, wollte unbedingt zur See fahren. Alle Sachverständigen hatten der Familie abgeraten, er ist schlaksig und mit krummen Beinen, setzt sich mit „beseeltem Kinderwillen“ durch.
Die „Elli“ ist ein Dreimaster, schon 25 Jahre alt, der Rumpf
schwarz geteert, Heimathafen Oldersum bei Emden. Bötticher wird
Schiffsjunge, es geht ihm nicht gut dabei. Die 15 Mann Besatzung
schikanieren den Jungen, „es gab so wenig gebildete oder zartfühlende
Seeleute“, räumt er später ein.
Beim Teerstreichen wird er
hinterrücks in den Topf gestoßen, der Steuermann prügelt ihn, der Koch
schlägt mit dem Schüreisen. Als Bötticher im Übereifer den großen
Kompass aushängt, um ihn mit Putzstein und Öl zu behandeln, reagiert
Kapitän Pommer sauer, vom Bootsmann setzt es Ohrfeigen.Um acht Uhr geht Bötticher aus der Kneipe weg und verspricht, rechtzeitig am Hafen zu sein, läuft aber schnurstracks in den Urwald, wo er sich erst verläuft und dann kein Nachtlager findet. Er hat Angst, die Geräusche sind ihm neu, er sieht Tiere, nimmt das Messer in die Hand.
Was folgt, ist aber kein Gemetzel, sondern ein heftiges Gewitter. Bötticher versucht, sich unter einem Pfahlhaus zu verkriechen, wird von schwarzen Einheimischen mit langen Messern verjagt. Patschnass, erschöpft und frierend stolpert er zurück nach Belize, in der Polizeiwache darf er schlafen.
Für einige Tage kommt der junge Mann bei einer kreolischen Familie unter, er erledigt Aushilfsarbeiten, bis er das Angebot erhält, auf einem mexikanischen Kriegsschiff zu fahren, acht Dollar Heuer im Monat.
Im Hafen erschrickt Bötticher. Das Schiff liegt da. Aber die „Elli“ ebenfalls. Er sieht bekannte Matrosen, duckt sich mehrfach weg, verbirgt sein Gesicht unter einem breiten Hut. Wenn bloß der Leichter zum Übersetzen da wäre! Zeit vergeht, Kapitän Pommer geht einmal direkt an Bötticher vorbei, der unter dem Seesack so tut, als würde er schlafen.
Endlich ist das Boot bereit, zum mexikanischen Schiff rauszufahren. Die Matrosen steigen ein, Bötticher hat ein Bein auf dem Boot, als ihm jemand auf die Schulter tippt, ein Polizist. Kapitän Pommer hat einen Preis auf die Ergreifung ausgesetzt, jemand, „ein Gelber“, ihn im Hafen erkannt und verraten. Auf der Wache wird verhandelt, der Kapitän nimmt Bötticher mit auf die „Elli“. Ein Polizist sagt „O, you are a bad boy“, „worauf ich ihm ein Leckmich zurief“.
Die Fahrt auf der „Elli“ nach Europa ist für den Schiffsjungen ebenso scheußlich, er wird zusätzlich wegen der Flucht verhöhnt. In Liverpool geht er von Bord. 1903 ist Schluss mit dem Matrosendasein, die Reichsmarine lässt die Sehfähigkeit der Matrosen prüfen, Bötticher sieht nicht gut genug. Er will auch nicht mehr.
Die „Elli“ hat wohl ein zweigeteiltes Schicksal. Die Bark, auf der Bötticher fuhr, strandet im Herbst 1902 in der Ostsee in der Nähe von Murmansk und geht dabei kaputt, die Mannschaft rettete sich im Boot
Im November 1911 sinkt der Schoner „Elli“ samt Besatzung auf dem Weg von England nach Cuxhaven, Schiffsteile werden gefunden, sonst nichts. Der Verlag lässt Böttichers Schiffsjungen-Tagebuch eine eine Zeitungsnotiz beigeben, um auf das Schicksal der „Elli“ hinzuweisen. Das findet Eingang in mehrere Biografien.
Nach dem Ersten Weltkrieg ändert Hans Bötticher, Leichtmatrose a. D., seinen Namen. Er nennt sich nun Joachim Ringelnatz, und die Abenteuer und Gedichte seines Matrosen Kuttel Daddeldu werden berühmt.
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