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Montag, 4. November 2019

Als Emily Dickinson den Sturm der Liebe erlebte / Gisela Trahms. WELT 02.11.2019

Emily Dickinson hat wie ein Gespenst gelebt – eine Frau in Weiß, die kaum ihr Zimmer verließ. Pfarrer Charles Wadsworth jedoch weckte Gefühle in ihr. Und nach Jahrzehnten steht er plötzlich vor ihrer Tür. 
Was braucht es, dass Leidenschaft entsteht? Ein Idol. Was hält sie wach? Stabile Gitter. Gitter und Beschränkungen gibt es genug für eine Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts, auch wenn ihre Lebensumstände üppig sind. Emily Dickinson, in eine der angesehensten Familien von Amherst, Massachusetts geboren, muss nicht heiraten, um ihre Zukunft zu sichern.
Sie zieht es vor, in dem großen Haus mit der reichen Bibliothek ein Tochterleben zu führen. Sie liest und schreibt, keine Romane, sondern Briefe. Lebhaft korrespondiert sie mit Männern und Frauen, die sie interessieren. Nicht selten legt sie den Briefen ein eigenes Gedicht bei, was nicht unüblich ist. Viele Menschen schreiben, viele bevorzugen die kurze Form des Gedichts.
Alles im Rahmen also und so, wie sie es will. Als der Vater sie und die jüngere Schwester 1858 zu einem Verwandtenbesuch nach Philadelphia mitnimmt, hört sie dort den Pfarrer Charles Wadsworth predigen, dessen Ruhm als Redner weit über die Gemeinde hinausreicht.
Ob sie ihn persönlich kennenlernt, bleibt zweifelhaft. Sie ist Ende 20, wohlhabend, hochintelligent, gebildet; er ist 16 Jahre älter, verheiratet, Vater. Sie schreibt ihm, und mit seiner Antwort beginnt das Geheimnis, bald der Sturm.
Mehr und mehr begreift sie sich als Dichterin, die im Schreiben Freiheit findet und Konventionen beiseitefegt. Ihre Texte bestehen aus unsentimentalen, oft rätselhaften Satzfetzen in eigenwilliger Orthografie. „Wild nights – Wild nights!/ Were I with thee/ Wild nights should be/ Our luxury!“ Noch deutlicher die letzte Strophe: „Ein Boot in Eden –/ Ach – das Meer!/ Verankert sein – heut nacht/ In dir!“ Was mag der Reverend von solchen Versen gehalten haben?
Die Briefe sind nicht überliefert, weder seine noch ihre. Erhalten blieben die sogenannten Master-Briefkonzepte, als deren möglicher Empfänger Wadsworth gilt. Ungestüm legt Dickinson darin ihr Verlangen nach einem Meister offen, einem kompetenten Juror, der ihr mit poetologischem Rat zur Seite steht, aber auch emotional entflammt ist wie sie selbst.
Dabei weiß ihr Verstand, den sie keineswegs opfert, dass sie ihm nicht so viel bedeutet wie er ihr. Und obwohl sie sich als „wife“ imaginiert, weiß sie ebenfalls, dass eine öffentlich tolerierte Bindung an den Geliebten unmöglich ist und auch nicht wünschbar, trotz Begehren und Sturmessausen. Schreiben kann sie nur, wenn sie allein bleibt. Aber wie mag sie ihn herbeigesehnt haben! Das Warten auf seine Gegenwart ist eine Qual, macht krank an Leib und Seele.
Hat er sie (das heißt natürlich: ihre Familie) besucht? Angeblich um 1860, aber verbürgt ist es nicht. 20 Jahre später, als der Sturm vorüber ist, steht er unangemeldet vor der Tür, ein Mann Mitte 60 vor einer Frau von 50 in einem weißen Kleid, gerade beschäftigt, die Zimmerpflanzen zu versorgen. Seit Langem verlässt sie kaum mehr das Haus, kaum ihr Zimmer.
„Warum haben Sie nicht geschrieben, dass Sie kommen, ich hätte mich gefreut,“ hört die Schwester sie sagen. „Ich wusste es selbst nicht,“ erwidert er, „ich bin von der Kanzel direkt in den Zug gestiegen.“ Mit dieser Antwort erweist er sich als ebenbürtig, vielleicht nur dieses eine, einzige Mal.
Nach ihrem Tod, als die Gedichte gesammelt und gedruckt sind, wird Emily Dickinson als Amerikas bedeutendste Dichterin erkannt. Die Villa in Amherst ist heute ein Museum, das kleine Zimmer mit dem Tisch, an dem sie schrieb, ist erhalten geblieben. Aber wer die Leidenschaft eines Lebens erahnen will, in dem sozusagen nichts geschah, muss nur die Gedichte aufschlagen. 

via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article202866780/Actionszenen-der-Weltliteratur-Emily-Dickinson.html


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