Die Wurzeln des Gospels in der Sklaverei
Tatsächlich hängt die Geschichte des Gospels eng an jener der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Allerdings muss man unterscheiden zwischen verschiedenen Strömungen des Gospels. Der von Aretha Franklin aufgegriffene und von Mother Smith oder der unerreichten Mahalia Jackson (die eben jenes „Take My Hand, Precious Lord“ bei der Beerdigung von Martin Luther King sang) perfektionierte Musikstil lässt sich am breitesten und besten mit „black gospel“ umschreiben. Kirchliche Musik kam mit den Europäern in die heutigen USA. Als erstes wohl über die Spanier, die bereits 1556 Gesangsbücher über Mexiko in den Süden der späteren Staaten brachten. Mit anderen europäischen Immigranten und Religionsgruppen kamen diverse Musikschulen in die Kirchen. Calvinistische und protestantische Vereinigungen hatten unterschiedliche Vorstellungen über Kirchengesang. Gemein hatten sie jedoch eine relative Strenge in Bezug zur Umsetzung dieser Lieder. Sie mussten auf eine bestimmte Art gesungen werden, in bestimmten stimmlichen Hierarchien. Das alles wurde niedergeschrieben in Büchern wie „The Bay Psalm Book“ aus dem Jahr 1640.So entstand die Idee einer „White Man’s Burden“. Es wäre die Pflicht der gläubigen Weißen, ihre Sklaven zu guten Christen zu machen. Sie nahmen sie mit zu den improvisierten Gottesdiensten, und so hörten die Schwarzen die Musik. Eines der eindrücklichsten Bilder solcher Gottesdienste und Revivals bekommt man (wenn auch zeitlich später angesiedelt, zur Zeit des „Third Awakenings“, der dritten großen protestantischen Erweckungsbewegung) in Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“ zu sehen. Aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammt auch das Konzept des Social Gospels, also der Anwendung christlicher Prinzipien auf weltliche Themen wie Alkoholismus oder Bildungsmangel.
Der Aufstieg des „black gospel“
Die Schwarzen vermischten die europäischen Einflüsse mit jener emotionalen, fiebrigen Variante der „Holiness Songs“. Der oftmals langsam aufbauende Kirchengesang mit plötzlichen Zwischenrufen, tranceartigen Beschwörungen und Ausbrüchen hat seinen Ursprung in Afrika. Erst nach dem Bürgerkrieg wurde 1867 mit „Slave Songs of the United States“ die erste Aufzeichnung von „black gospel“ publiziert. Das lag unter anderem daran, dass „black gospel“ viel weniger als andere Formen der Kirchenmusik an feste Texte oder wiederholte Formen gebunden war. Im Zentrum der Musik stand und steht bis heute Improvisation und Variation. Ein Lied kann in tausend verschiedenen Facetten gesungen werden, die Performance ist essentieller Teil des Liedes. Gerade deshalb war es entscheidend für Reverend James Cleveland und Aretha Franklin, ihre Aufnahme von „Amazing Grace“ als Live-Performance in einer Kirche zu inszenieren. Zwischenrufe, Tränen, sich überschlagende Stimmen und Interaktion mit der Menge gehören zu einer Gospelperformance dazu.Mit der entscheidenden Figur Thomas Dorsey samt seiner „Dorsey’s Gospel Singers Convention“ etablierte sich „black gospel“ in den 1930er-Jahren mehr und mehr im Mainstream. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, und die Musik bot einen aufmunternden, ja erlösenden Ausweg. Sängerinnen wie Sallie Martin, Mahalia Jackson oder Rosetta Tharpe (wie viele Gospelsängerinnen in den Kirchen und auf der Straße ausgebildet) verhalfen dem Genre zu einer goldenen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mitverantwortlich für den Erfolg war auch die zunehmende Präsenz von „black gospel“ im Fernsehen. Eigens übertragene Gottesdienste und Shows für die größten Stars der Szene machten die Musik national bekannt.
Gemeinsame Teilhabe an der Kunst
Inzwischen lag im „black gospel“ weit mehr als geistliche Musik. Das Konzept des Social Gospels war keine Frage religiöser Überzeugung für eine unterdrückte Klasse. Gospel war eine Überlebensform. Das Performative des Gospels ist eine Frage der Überzeugung, des Glaubens, der Hingabe und nicht des Schauspiels. Die Musik vermittelt eine Freude am Leben, ein spirituelles oder ekstatisches Momentum gegen den Zynismus der Zeit. Womöglich wirken die séanceartigen Aufnahmen in „Aretha Franklin: Amazing Grace“ auch deshalb so berührend. Die gemeinsame Teilhabe an der Kunst, das Mitgerissenwerden stellt Fragen an die immersive, aber doch distanzierte Erfahrung im Kino.Das emanzipatorische Potenzial der Musik verbindet sich auch eindrücklich mit Blaxploitation-Filmen. Von „Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs“ (1970), in dem Sidney Poitier in einer entscheidenden Szene an der Orgel einer Kirche sitzt, über „Sweet Sweetbacks Lied“ (1971), in dem nicht nur Gospel-Songs zu hören sind, sondern der von „Earth, Wind and Fire“ eingespielte Score mit Gospelanspielungen gespickt ist, bis zum berühmten Curtis-Mayfield-Soundtrack von „Superfly“ (1972), in dem sich der Einfluss von Gospel auf Soul nachempfinden lässt, ließe sich eine eigene Geschichte von Gospel und Blaxploitation schreiben.
Bei Vorführungen von „Say Amen, Somebody“ in Kirchen oder Gemeinschaftszentren kommt es bis heute zu Zwischenrufen, Menschen singen mit, beten und weinen. Die Präsenz von Musik und Kino breitet sich so von der Leinwand in den Saal aus. In Zeiten, in denen die Legenden des Gospels verschwunden sind und jene des Kinos zur Debatte stehen, können Filme wie „Say Amen, Somebody“ oder„Aretha Franklin: Amazing Grace“ bewusst machen, was man verliert, wenn man nicht teilnimmt an dem, was man sieht und hört und fühlt.
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