„Say Amen, Somebody“ wurde vor kurzem digital restauriert und in New York wiederaufgeführt. Zusammen mit „Aretha Franklin: Amazing Grace“, den Alan Elliott aus 1972 gedrehtem Material von Sydney Pollack herstellte, markiert er ein starkes Wiederaufleben dieser Musik im Kino. Sonst kennt man den Gospel vor allem aus Hollywoodfilmen über die Sklaverei oder im weitesten Sinne Dramen rund um Rassismus. Dabei greifen die Filmemacher wiederholt auf die gleichen Lieder zurück. Insbesondere das unter anderem von Elvis gecoverte „Take My Hand, Precious Lord“, das ursprünglich Thomas Dorsey zugeschrieben wird, findet häufig Verwendung. Als Filmbeispiele kann man „Detroit“ von Kathryn Bigelow, „Selma“ von Ava DuVernay, „Die Jury“ von Joel Schumacher oder „Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses“ von Alan Parker nennen. Aus anderen Filmen kennt man die Szenen, in denen Sklavenarbeiter auf den Feldern singen, um sich Mut zu machen. In der gemeinsamen Musik stellt sich für die unterdrückten Menschen ein Ausweg dar, eine Hoffnung, die neben der von den genannten Filmen aufgegriffenen identitätsstiftenden Wirkung für den Gospel ganz entscheidend ist.
Die Wurzeln des Gospels in der Sklaverei
Tatsächlich hängt die Geschichte des Gospels eng an jener der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Allerdings muss man unterscheiden zwischen verschiedenen Strömungen des Gospels. Der von Aretha Franklin aufgegriffene und von Mother Smith oder der unerreichten Mahalia Jackson (die eben jenes „Take My Hand, Precious Lord“ bei der Beerdigung von Martin Luther King sang) perfektionierte Musikstil lässt sich am breitesten und besten mit „black gospel“ umschreiben. Kirchliche Musik kam mit den Europäern in die heutigen USA. Als erstes wohl über die Spanier, die bereits 1556 Gesangsbücher über Mexiko in den Süden der späteren Staaten brachten. Mit anderen europäischen Immigranten und Religionsgruppen kamen diverse Musikschulen in die Kirchen. Calvinistische und protestantische Vereinigungen hatten unterschiedliche Vorstellungen über Kirchengesang. Gemein hatten sie jedoch eine relative Strenge in Bezug zur Umsetzung dieser Lieder. Sie mussten auf eine bestimmte Art gesungen werden, in bestimmten stimmlichen Hierarchien. Das alles wurde niedergeschrieben in Büchern wie „The Bay Psalm Book“ aus dem Jahr 1640.Erst innerhalb des "Great Awakening", einer großen protestantischen Erweckungsbewegung seit den 1730er-Jahren, und mit Aufkommen der Spirituals kam eine neue Richtung in die Musik, die sich nicht mehr an kirchliche Autoritäten halten wollte. Statt strenger Vorgaben herrschten größere Emotionalität und Spontaneität. Der Rhythmus allerdings blieb der gleiche, genau wie die Dominanz von Text über Musik. Das änderte sich erst mit Afroamerikanern, die mit dieser Musik in Berührung kamen und eigene musikalische Formen mit ihr kombinierten. Sklaverei, die 1641 in Massachusetts legalisiert wurde, trug einen nicht leicht zu lösenden Konflikt für die dominanten Weißen mit sich. Denn manche Prediger verkündeten, dass auch die Schwarzen eine Seele hätten. Eine Taufe stand für viele Sklavenhalter aber außer Frage, da dies den Getauften einige Rechte geben würde, die man lieber für sich selbst behalten wollte.
So entstand die Idee einer „White Man’s Burden“. Es wäre die Pflicht der gläubigen Weißen, ihre Sklaven zu guten Christen zu machen. Sie nahmen sie mit zu den improvisierten Gottesdiensten, und so hörten die Schwarzen die Musik. Eines der eindrücklichsten Bilder solcher Gottesdienste und Revivals bekommt man (wenn auch zeitlich später angesiedelt, zur Zeit des „Third Awakenings“, der dritten großen protestantischen Erweckungsbewegung) in Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“ zu sehen. Aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammt auch das Konzept des Social Gospels, also der Anwendung christlicher Prinzipien auf weltliche Themen wie Alkoholismus oder Bildungsmangel.
Der Aufstieg des „black gospel“
Die Schwarzen vermischten die europäischen Einflüsse mit jener emotionalen, fiebrigen Variante der „Holiness Songs“. Der oftmals langsam aufbauende Kirchengesang mit plötzlichen Zwischenrufen, tranceartigen Beschwörungen und Ausbrüchen hat seinen Ursprung in Afrika. Erst nach dem Bürgerkrieg wurde 1867 mit „Slave Songs of the United States“ die erste Aufzeichnung von „black gospel“ publiziert. Das lag unter anderem daran, dass „black gospel“ viel weniger als andere Formen der Kirchenmusik an feste Texte oder wiederholte Formen gebunden war. Im Zentrum der Musik stand und steht bis heute Improvisation und Variation. Ein Lied kann in tausend verschiedenen Facetten gesungen werden, die Performance ist essentieller Teil des Liedes. Gerade deshalb war es entscheidend für Reverend James Cleveland und Aretha Franklin, ihre Aufnahme von „Amazing Grace“ als Live-Performance in einer Kirche zu inszenieren. Zwischenrufe, Tränen, sich überschlagende Stimmen und Interaktion mit der Menge gehören zu einer Gospelperformance dazu.Aus der in die Filme übertragenen Direktheit nehmen Arbeiten wie „Say Amen, Somebody“ oder „Aretha Franklin: Amazing Grace“ ihre mitreißende Kraft. Ed Lachman äußerte, dass es ihm bei der Kameraarbeit vor allem darum ging, im Moment zu sein. Die Nähe herzustellen, um das Ausbrechende filmisch einzufangen, ist äußerst schwer. Sydney Pollack ließ sich so sehr mitnehmen, dass er am Ende auch aufgrund limitierter technischer Möglichkeiten nicht mehr wusste, wie er das Material schneiden solle. Synchronität zwischen Bild und Ton war unmöglich herzustellen. Die immense Nähe seiner Bilder, der Schweiß auf dem Gesicht von Aretha Franklin, die rohe Direktheit des Gefilmten tragen zum Gefühl des Wegfliegens bei, weil es bereits in die Musik eingeschrieben ist.
Mit der entscheidenden Figur Thomas Dorsey samt seiner „Dorsey’s Gospel Singers Convention“ etablierte sich „black gospel“ in den 1930er-Jahren mehr und mehr im Mainstream. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise, und die Musik bot einen aufmunternden, ja erlösenden Ausweg. Sängerinnen wie Sallie Martin, Mahalia Jackson oder Rosetta Tharpe (wie viele Gospelsängerinnen in den Kirchen und auf der Straße ausgebildet) verhalfen dem Genre zu einer goldenen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mitverantwortlich für den Erfolg war auch die zunehmende Präsenz von „black gospel“ im Fernsehen. Eigens übertragene Gottesdienste und Shows für die größten Stars der Szene machten die Musik national bekannt.
Gemeinsame Teilhabe an der Kunst
Inzwischen lag im „black gospel“ weit mehr als geistliche Musik. Das Konzept des Social Gospels war keine Frage religiöser Überzeugung für eine unterdrückte Klasse. Gospel war eine Überlebensform. Das Performative des Gospels ist eine Frage der Überzeugung, des Glaubens, der Hingabe und nicht des Schauspiels. Die Musik vermittelt eine Freude am Leben, ein spirituelles oder ekstatisches Momentum gegen den Zynismus der Zeit. Womöglich wirken die séanceartigen Aufnahmen in „Aretha Franklin: Amazing Grace“ auch deshalb so berührend. Die gemeinsame Teilhabe an der Kunst, das Mitgerissenwerden stellt Fragen an die immersive, aber doch distanzierte Erfahrung im Kino.Wie stark die Musik mit dem Leben der Schwarzen in den USA verknüpft war, zeigt James Clevelands „Gospel Music Workshop of America“. Mit dem emphatischen Slogan „Where Everybody Is Somebody“ richtete er sich gezielt an Arbeiter und an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen. Dass es dabei um eine Gemeinschaftserfahrung ging, die weit über die „black communities“ Menschen verband, war ein wundervoller Nebeneffekt. Welch Charisma und welch Feuer von Cleveland ausging, kann man in „Aretha Franklin: Amazing Grace“ beobachten. Seine Einleitungen zu den Songs geben Film und Musik etwas zugleich Dialogisches und Erhabenes.
Das emanzipatorische Potenzial der Musik verbindet sich auch eindrücklich mit Blaxploitation-Filmen. Von „Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs“ (1970), in dem Sidney Poitier in einer entscheidenden Szene an der Orgel einer Kirche sitzt, über „Sweet Sweetbacks Lied“ (1971), in dem nicht nur Gospel-Songs zu hören sind, sondern der von „Earth, Wind and Fire“ eingespielte Score mit Gospelanspielungen gespickt ist, bis zum berühmten Curtis-Mayfield-Soundtrack von „Superfly“ (1972), in dem sich der Einfluss von Gospel auf Soul nachempfinden lässt, ließe sich eine eigene Geschichte von Gospel und Blaxploitation schreiben.
Bei Vorführungen von „Say Amen, Somebody“ in Kirchen oder Gemeinschaftszentren kommt es bis heute zu Zwischenrufen, Menschen singen mit, beten und weinen. Die Präsenz von Musik und Kino breitet sich so von der Leinwand in den Saal aus. In Zeiten, in denen die Legenden des Gospels verschwunden sind und jene des Kinos zur Debatte stehen, können Filme wie „Say Amen, Somebody“ oder„Aretha Franklin: Amazing Grace“ bewusst machen, was man verliert, wenn man nicht teilnimmt an dem, was man sieht und hört und fühlt.
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