Bald spuckt der Computer ein Lebenszeichen aus. Es ist vermutlich das erste Signal, das Reich im März 1945, noch während des Krieges, aus Polen an seine Schwester Gerda sandte, die sich vor dem Krieg nach London gerettet hatte. „REICH, Marcel grüsst Gerda und Bernard Bennet“, heißt es dort. Diese Karte wurde irgendwann in Bad Arolsen angelegt, und die Archivare haben, ihrer Aufgabe gemäß, sofort versucht, Daten über den Absender zu erfassen: „relig.: jüdisch, Nat: unbekannt“. Die englisch bezeichneten Felder für Geburtstag und Geburtsort blieben frei. Die Archivare hielten auch fest, welchen Weg diese Flaschenpost gegangen war: Der Gruß des Verwandten wurde vom wiedergegründeten Polnischen Rundfunk aus dem ostpolnischen Lublin ausgestrahlt und später von der Jewish Telegraphic Agency (JTA) in eine Kladde mit heute vergilbtem Papier eingetragen. Sie trägt den Titel: „Jüdische Überlebende in Lublin/Polen, die nach Verwandten suchen“ und verzeichnet 115 Personen, die über den Rundfunk Grüße oder Kurznachrichten versandt hatten. „CLI“ als weiteres Glied in der Kette bezeichnet vermutlich den in New York ansässigen Suchdienst Central Location Index.

Es war März 1945: Der Krieg tobte. Im Osten wurde die „Festung Breslau“ noch gehalten, die Schlacht um Kolberg hatte bereits begonnen. Marceli Reich in Warschau hatte die Rote Armee bereits im Herbst erblickt – ihre Ankunft war das Signal, dass seine Frau Teofila und er ihr lebensrettendes Versteck bei der Familie Gawin verlassen konnten. Sie begaben sich nach Lublin, wo unter sowjetischer Aufsicht eine polnische kommunistische Regierung geschaffen wurde. Dort verbrachten sie, zunächst mittel- und obdachlos, mehrere Monate und verpflichteten sich beim gerade gegründeten polnischen Ministerium für Öffentliche Sicherheit, wo sie zu Anfang bei der Postzensur Verwendung fanden. Zu ihren ersten Dienstreisen wurden beide ins gerade eroberte Schlesien geschickt. All das musste Marcelis ältere Schwester Gerda nicht wissen: Ihr wird genügt haben, dass ihr Bruder ihr (und einem Herrn Bernard Bennet) Grüße ausrichtet. Ich grüße – will sagen: Ich lebe noch. Allerdings hat dieses Lebenszeichen über den Äther die Schwester vermutlich nicht erreicht. Denn vom 26. Mai 1945 ist ein Telegramm überliefert, das Marceli Reich aus Warschau ebenfalls an seine Schwester richtet und mit den Worten beginnt: „I am alive“ (Ich bin am Leben). Erst jetzt kommt eine Korrespondenz per Telegramm zustande.
Was früher der Fernschreiber war, ist heute das Internet. Im vergangenen
Monat haben die Arolsen Archives in Partnerschaft mit der
Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einen großen Teil ihrer Bestände
online gestellt (https://collections.arolsen-archives.org).
Die Datenbank enthält unter anderem Dokumente aus Konzentrationslagern,
darunter Häftlingskarten und Todesmeldungen. Jetzt sind mehr als
dreizehn Millionen Dokumente mit Informationen zu mehr als 2,2 Millionen
Menschen auch aus der Ferne zu lesen, zum Beispiel von Menschen in
Lublin oder London. Weitere Bestände sollen folgen.
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