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Samstag, 22. Juni 2019

In welcher Fassung soll man Anne Frank lesen? / Marc Reichwein. In: WELT 12.06.2019

Das weltberühmte Tagebuch von Anne Frank gibt es in zwei Versionen. Was hat es damit auf sich – und welche Fassung ist die gültige? Ein Überblick aller Anne-Frank-Ausgaben – bis hin zur Comic-Adaption. Publikationsgeschichtlich ist es mit dem Tagebuch der Anne Frank verzwickt, weil es in mehr als einer Version vorliegt. So stellen sich ein paar Fragen:

In welcher Version soll man Anne Frank lesen? Gibt es eine Originalfassung?

Anne Frank im Jahr 1940 
Anne Frank im Jahr 1940
Quelle: picture alliance / akg-images
Anne Frank selbst hinterließ zwei Tagebuchfassungen. Zur zweiten, überarbeiteten Version kam es, weil Anne im BBC-Radiosender Oranje einen niederländischen Exilpolitiker ankündigen hörte, „dass nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit herauskommen soll“. Das regte sie an, ihr Tagebuch, das aus rein privaten Gründen begonnen worden war, für eine mögliche Veröffentlichung zu überarbeiten. Allerdings kam sie mit der Neufassung (B) nur bis zum 29. März 1944, während die Erstfassung (A) mit dem Eintrag vom 1. August 1944 endet – drei Tage vor Verhaftung der Familie.

Welche Tagebuch-Fassung ist am meisten verbreitet?

Die von Mirjam Pressler besorgte, bis heute gültige Leseausgabe (S. Fischer, ab 10€). Sie entstand 1991 als Überarbeitung der redigierten Version, die Anne Franks Vater Otto 1947 – als Amalgam aus den Fassungen A und B – publiziert hatte. Die Pressler-Edition beinhaltet Annes Nachträge und Ergänzungen, bleibt aber ein Amalgam aus Version A und B. Ganz „ungekürzt“, wie der Verlag behauptet, gibt sie beide Versionen aber nicht wieder: Manche Sätze, wie etwa Anne Franks Hinweis auf die begonnene Arbeit am Roman „Hinterhaus“ (im Tagebuch-Eintrag vom 22. Mai 1944) fehlen.

Wo gibt es Anne Frank ungekürzt?

Beide Tagebücher (A+B) in voller Länge gibt es unter dem Titel „Das Hinterhaus/Het Achterhuis. Die Tagebücher von Anne Frank“ (Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. S. Fischer, 480 S., 35 €). Es ist eine Auskopplung der 2013 erschienen Anne-Frank-Gesamtausgabe und bietet dem breiten Publikum beide Fassungen (A und B) hintereinandergereiht. Was den Vorteil der Lückenlosigkeit hat – aber den Nachteil, dass man vieles doppelt lesen muss.

Was ist mit dem „Romanentwurf in Briefen“?

Auf Initiative von Laureen Nussbaum, einer Jugendfreundin von Anne Franks Schwester, und in Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Anne-Frank-Haus wurde die überarbeitete Tagebuch-Variante (B) jetzt separat veröffentlicht, unter dem Titel „Liebe Kitty“ (A. d. Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Secession, 208 S., 18 €). Editorisch ist diese Isolation fragwürdig. Zudem verschleiert der Untertitel „Ihr Romanentwurf in Briefen“, dass Anne Franks Tagebuch ja zur Gänze aus Briefen an Kitty besteht.

Darf man Anne Frank auch als Comic lesen?

Unbedingt, und der ist sogar empfehlenswert: Mit der vor zwei Jahren erschienenen Comic-Adaption von Anne Franks Tagebuch (S. Fischer, 160 S., 20 €) haben der israelische Filmemacher Ari Folman und der Zeichner David Polonsky – bekannt geworden durch den oscarnominierten Trickfilm „Waltz with Bashir“ – eine neue Sprache für Anne Frank gefunden.

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