Im Frühjahr 2018 hat die Deutsche Gesellschaft für Pathologie
e.V. (DGP) das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
der Uniklinik RWTH Aachen beauftragt, die Pathologie im
Nationalsozialismus zu erforschen. Der Fokus der
geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung in diesem ersten umfassenden
Projekt zum Thema war zweigeteilt - einmal in eine Betrachtung der Opfer
unter den Pathologinnen und Pathologen und einmal in eine Betrachtung
der Deutschen Gesellschaft für Pathologie und ihrer Repräsentanten zur
Zeit des NS-Regimes.
Teilprojekt 1 fokussiert auf die Vertreibung, Entrechtung und
Verfolgung von Pathologen im „Dritten Reich“ – und damit auf eine
Personengruppe, die bis dato in der Forschung kaum systematische
Beachtung fand.
Während die Ausgrenzung mancher fachärztlicher Gruppen mittlerweile gut
untersucht ist, fehlen bisher quantifizierende und systematisierende
Studien zur Entrechtung der Pathologen. Diese Forschungslücke soll nun
geschlossen werden. Das Teilprojekt 1 stellt die Frage nach der Zahl der
verfolgten Pathologen, nach den übergreifenden Gemeinsamkeiten dieses
Personenkreises, nach den Auswirkungen der Repressionen auf die weiteren
Lebensverläufe der Pathologen sowie auch nach der Involvierung der
Deutschen Gesellschaft für Pathologie – sowohl in der Zeitphase 1933 bis
1945 als auch in der Nachkriegszeit.
Auf Grundlage von Primärquellen aus zahlreichen Archiven sowie einer
systematischen Reanalyse der publizierten Sekundärliteratur zur
Geschichte der NS-Medizin konnten 89 entrechtete Pathologen ermittelt
und in die Studie einbezogen werden (s. Anlage 1: Gesamtliste der
entrechteten Pathologen).
Die große Mehrheit der Pathologen (86%) wurde aufgrund ihrer jüdischen
Abstammung verfolgt. Gut zwei Drittel der Pathologen waren bis zu ihrer
Entrechtung an einer Universität beschäftigt.
Zwei Drittel der untersuchten Pathologen (n = 62; 70%) entschlossen sich
nachweislich zur Emigration; 24 Personen verblieben im Heimatland; fünf
dieser Pathologen fanden in Konzentrationslagern den Tod, zwei weitere
entschlossen sich zum Suizid.
Bevorzugtes direktes Immigrationsland war die USA (n = 35), gefolgt von
Großbritannien (n = 16). Während sich die meisten der untersuchten
Pathologen im Zielland beruflich etablieren konnten, zeigten sie nach
1945 kaum eine Neigung zur Remigration. Gründe hierfür waren mangelnde
Karriereoptionen im Heimatland, eine fehlende Willkommenskultur der
dortigen Kollegen und Universitäten sowie stigmatisierende Erfahrungen
einzelner Pathologen in den Berufungs- und „Wiedergutmachungsverfahren“
in Deutschland. Dagegen wurden ihnen – vor allem in den letzten
Jahrzehnten und z.T. posthum – in Deutschland und Österreich vermehrt
immaterielle Würdigungen zuteil (s. Anlage 2: Immaterielle Ehrungen an
entrechtete Pathologen nach 1945). Auch wenn diese Ehrungen keine
Wiedergutmachung mehr leisten konnten, sind sie doch Zeichen eines
schleichenden Bewusstseinswandels.
Zu vier der erfassten verfolgten Pathologen (Berblinger, Pagel, Popper
und Schwartz) sind Einzelstudien erstellt und veröffentlicht worden bzw.
in Publikation begriffen (s. Anlage 3: Übersicht der wiss.
Veröffentlichung zum Projekt).
Im Teilprojekt 2 stehen die DGP (bis 1945: DPG) und ihre Repräsentanten
im Fokus der Untersuchungen. Zum Ersten interessiert hierbei, wie die
DGP im „Dritten Reich“ und nach 1945 mit den entrechteten Kollegen bzw.
Mitgliedern umging, und zum Zweiten gilt es zu klären, welche politische
Rolle ihre Präsidenten und Vorstandsmitglieder im Dritten Reich
spielten.
Was den Umgang der Fachgesellschaft mit den entrechteten – jüdischen
und/oder politisch andersdenkenden – Kollegen bzw. Mitgliedern im
„Dritten Reich“ angeht, so lässt sich für das Jahr 1933 ein radikaler
Politikwechsel nachweisen: Zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die
Nationalsozialisten fungierte der jüdische Pathologe Gotthold Herxheimer
als Vorsitzender der DGP; er war vor der Machtergreifung im April 1931
gewählt worden. Herxheimers erzwungenem Rücktritt (1933) folgte die
Gleichschaltung der Gesellschaft; seit 1934 standen alle Wahlen und
Beschlüsse der Gesellschaft unter dem Vorbehalt des NS- Regimes.
Insgesamt konnten 59 Personen ausgemacht werden, welche a) im „Dritten
Reich“ als Arzt bzw. Pathologe tätig waren bzw. wurden und b) vor 1933,
zwischen 1933 und 1945 oder nach 1945 ein führendes Amt in der DGP
(Vorsitzende, Jahrespräsidenten, Beisitzer) innehatten (vgl. Tabelle
DGP-Repräsentanten). Paul Ernst (1926) war hierbei der erste, Gerhard
Seifert (1986) der letzte DGP-Vorsitzende im untersuchten Kollektiv. Der
1933 abgesetzte Herxheimer war der einzige DGP-Präsident jüdischer
Herkunft.
Bei 47 der übrigen 58 DGP-Repräsentanten konnte quellenkundlich
verbindlich geklärt werden, ob sie Parteimitglieder waren oder nicht: 30
dieser 47 Pathologen gehörten demnach nachweislich der Partei an, die
übrigen 17 waren ebenso sicher kein Parteimitglied. Dies entspricht
einer NSDAP-Quote von 64 Prozent. Allerdings dürfte das Gros der elf
Personen, für die weder Hinweise auf eine Mitgliedschaft noch
gegenteilige Belege nachweislich waren, kein Parteimitglied gewesen
sein. Sofern man also unterstellt, dass in allen elf offenen Fällen
keine Mitgliedschaft vorlag, beträgt die NSDAP-Mitgliederquote der 58
DGP-Repräsentanten (Herxheimer ausgenommen) immer noch 52 Prozent. Beide
Prozentsätze liegen über der durchschnittlichen NSDAP-Quote der
gesamten ärztlichen Berufsgruppe, die sich nach Hochrechnungen von
Michael Kater auf ca. 45 Prozent beläuft – und damit ohnehin höher
ausfällt als bei allen anderen Berufsgruppen, denn die Ärzteschaft
verzeichnete den mit Abstand höchsten Anteil an Parteimitgliedern
(Vergleichsgruppe Lehrer: 25 %).
Erwähnenswert ist insbesondere, dass die große Mehrheit der
NSDAP-Mitglieder erst in der Bundesrepublik Deutschland zu
DGP-Präsidenten ernannt wurden. Mit anderen Worten: eine frühere
NSDAP-Mitgliedschaft war offenkundig kein Hindernis für eine
Präsidentschaft. Auffällig ist auch, dass DGP-Verantwortliche noch im
Nachkriegsdeutschland die Wiedergutmachungsansprüche emigrierter
jüdischer Kollegen konterkarierten – so der DGP-Präsident von 1962, Carl
Krauspe, die Ansprüche der jüdischen Kollegen Paul Kimmelstiel und
Friedrich Wohlwill.
Das Teilprojekt 2 ist noch nicht vollständig beendet. Während die
Erhebungen bereits abgeschlossen sind, dauern die Auswertungen noch an.
Abschließende Ergebnisse sind hier bis zum Projektabschluss im Herbst
2019 zu erwarten.
Anhang
via https://idw-online.de/de/news717246
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