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Freitag, 21. Juni 2019

Aufarbeitungsprojekt: Pathologie und Pathologinn/en im Nationalsozialismus

Im Frühjahr 2018 hat die Deutsche Gesellschaft für Pathologie e.V. (DGP) das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik RWTH Aachen beauftragt, die Pathologie im Nationalsozialismus zu erforschen. Der Fokus der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung in diesem ersten umfassenden Projekt zum Thema war zweigeteilt - einmal in eine Betrachtung der Opfer unter den Pathologinnen und Pathologen und einmal in eine Betrachtung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie und ihrer Repräsentanten zur Zeit des NS-Regimes.
Teilprojekt 1 fokussiert auf die Vertreibung, Entrechtung und Verfolgung von Pathologen im „Dritten Reich“ – und damit auf eine Personengruppe, die bis dato in der Forschung kaum systematische Beachtung fand.
Während die Ausgrenzung mancher fachärztlicher Gruppen mittlerweile gut untersucht ist, fehlen bisher quantifizierende und systematisierende Studien zur Entrechtung der Pathologen. Diese Forschungslücke soll nun geschlossen werden. Das Teilprojekt 1 stellt die Frage nach der Zahl der verfolgten Pathologen, nach den übergreifenden Gemeinsamkeiten dieses Personenkreises, nach den Auswirkungen der Repressionen auf die weiteren Lebensverläufe der Pathologen sowie auch nach der Involvierung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie – sowohl in der Zeitphase 1933 bis 1945 als auch in der Nachkriegszeit. Auf Grundlage von Primärquellen aus zahlreichen Archiven sowie einer systematischen Reanalyse der publizierten Sekundärliteratur zur Geschichte der NS-Medizin konnten 89 entrechtete Pathologen ermittelt und in die Studie einbezogen werden (s. Anlage 1: Gesamtliste der entrechteten Pathologen).
Die große Mehrheit der Pathologen (86%) wurde aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verfolgt. Gut zwei Drittel der Pathologen waren bis zu ihrer Entrechtung an einer Universität beschäftigt.
Zwei Drittel der untersuchten Pathologen (n = 62; 70%) entschlossen sich nachweislich zur Emigration; 24 Personen verblieben im Heimatland; fünf dieser Pathologen fanden in Konzentrationslagern den Tod, zwei weitere entschlossen sich zum Suizid.
Bevorzugtes direktes Immigrationsland war die USA (n = 35), gefolgt von Großbritannien (n = 16). Während sich die meisten der untersuchten Pathologen im Zielland beruflich etablieren konnten, zeigten sie nach 1945 kaum eine Neigung zur Remigration. Gründe hierfür waren mangelnde Karriereoptionen im Heimatland, eine fehlende Willkommenskultur der dortigen Kollegen und Universitäten sowie stigmatisierende Erfahrungen einzelner Pathologen in den Berufungs- und „Wiedergutmachungsverfahren“ in Deutschland. Dagegen wurden ihnen – vor allem in den letzten Jahrzehnten und z.T. posthum – in Deutschland und Österreich vermehrt immaterielle Würdigungen zuteil (s. Anlage 2: Immaterielle Ehrungen an entrechtete Pathologen nach 1945). Auch wenn diese Ehrungen keine Wiedergutmachung mehr leisten konnten, sind sie doch Zeichen eines schleichenden Bewusstseinswandels.
Zu vier der erfassten verfolgten Pathologen (Berblinger, Pagel, Popper und Schwartz) sind Einzelstudien erstellt und veröffentlicht worden bzw. in Publikation begriffen (s. Anlage 3: Übersicht der wiss. Veröffentlichung zum Projekt).
Im Teilprojekt 2 stehen die DGP (bis 1945: DPG) und ihre Repräsentanten im Fokus der Untersuchungen. Zum Ersten interessiert hierbei, wie die DGP im „Dritten Reich“ und nach 1945 mit den entrechteten Kollegen bzw. Mitgliedern umging, und zum Zweiten gilt es zu klären, welche politische Rolle ihre Präsidenten und Vorstandsmitglieder im Dritten Reich spielten.
Was den Umgang der Fachgesellschaft mit den entrechteten – jüdischen und/oder politisch andersdenkenden – Kollegen bzw. Mitgliedern im „Dritten Reich“ angeht, so lässt sich für das Jahr 1933 ein radikaler Politikwechsel nachweisen: Zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fungierte der jüdische Pathologe Gotthold Herxheimer als Vorsitzender der DGP; er war vor der Machtergreifung im April 1931 gewählt worden. Herxheimers erzwungenem Rücktritt (1933) folgte die Gleichschaltung der Gesellschaft; seit 1934 standen alle Wahlen und Beschlüsse der Gesellschaft unter dem Vorbehalt des NS- Regimes.
Insgesamt konnten 59 Personen ausgemacht werden, welche a) im „Dritten Reich“ als Arzt bzw. Pathologe tätig waren bzw. wurden und b) vor 1933, zwischen 1933 und 1945 oder nach 1945 ein führendes Amt in der DGP (Vorsitzende, Jahrespräsidenten, Beisitzer) innehatten (vgl. Tabelle DGP-Repräsentanten). Paul Ernst (1926) war hierbei der erste, Gerhard Seifert (1986) der letzte DGP-Vorsitzende im untersuchten Kollektiv. Der 1933 abgesetzte Herxheimer war der einzige DGP-Präsident jüdischer Herkunft.
Bei 47 der übrigen 58 DGP-Repräsentanten konnte quellenkundlich verbindlich geklärt werden, ob sie Parteimitglieder waren oder nicht: 30 dieser 47 Pathologen gehörten demnach nachweislich der Partei an, die übrigen 17 waren ebenso sicher kein Parteimitglied. Dies entspricht einer NSDAP-Quote von 64 Prozent. Allerdings dürfte das Gros der elf Personen, für die weder Hinweise auf eine Mitgliedschaft noch gegenteilige Belege nachweislich waren, kein Parteimitglied gewesen sein. Sofern man also unterstellt, dass in allen elf offenen Fällen keine Mitgliedschaft vorlag, beträgt die NSDAP-Mitgliederquote der 58 DGP-Repräsentanten (Herxheimer ausgenommen) immer noch 52 Prozent. Beide Prozentsätze liegen über der durchschnittlichen NSDAP-Quote der gesamten ärztlichen Berufsgruppe, die sich nach Hochrechnungen von Michael Kater auf ca. 45 Prozent beläuft – und damit ohnehin höher ausfällt als bei allen anderen Berufsgruppen, denn die Ärzteschaft verzeichnete den mit Abstand höchsten Anteil an Parteimitgliedern (Vergleichsgruppe Lehrer: 25 %).
Erwähnenswert ist insbesondere, dass die große Mehrheit der NSDAP-Mitglieder erst in der Bundesrepublik Deutschland zu DGP-Präsidenten ernannt wurden. Mit anderen Worten: eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft war offenkundig kein Hindernis für eine Präsidentschaft. Auffällig ist auch, dass DGP-Verantwortliche noch im Nachkriegsdeutschland die Wiedergutmachungsansprüche emigrierter jüdischer Kollegen konterkarierten – so der DGP-Präsident von 1962, Carl Krauspe, die Ansprüche der jüdischen Kollegen Paul Kimmelstiel und Friedrich Wohlwill.
Das Teilprojekt 2 ist noch nicht vollständig beendet. Während die Erhebungen bereits abgeschlossen sind, dauern die Auswertungen noch an. Abschließende Ergebnisse sind hier bis zum Projektabschluss im Herbst 2019 zu erwarten. 


Anhang


via https://idw-online.de/de/news717246

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