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Dienstag, 11. Juni 2019

Willige Helfer der Nazis in den Finanzämtern / Maria Wetzel In: Stuttgarter Zeitung 11.06.2019

Die Finanzverwaltung während der NS-Zeit galt über Jahrzehnte als wenig ideologische, unbestechliche und an der Sache orientierte Behörde. Dieses Bild lässt sich allerdings nicht länger halten. „Beamte diskriminierten Juden gezielt bei den Steuern und plünderten sie aus“, sagte der Historiker Christoph Raichle am Freitag bei der Vorstellung seiner Studie „Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus“ in Stuttgart. Nach 1945 verhinderten sie teilweise, dass Überlebende ihr Eigentum zurückbekamen. 
Die von Raichle ausgewerteten Einzelfälle machen deutlich, wie professionell und effizient Finanzbeamte in den beiden Ländern daran mitwirkten, beispielsweise die 1938 vom Reich geforderte „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark einzutreiben – am Ende kamen sogar 1,1 Milliarden zusammen. Juden wurden teilweise der Steuerhinterziehung beschuldigt, vor ihrer Auswanderung oder Deportation mussten sie den allergrößten Teil ihres Vermögens abliefern. „Auch Beamte, die nicht zu den fanatischen Parteiaktivisten zählten, machten sich so zu Werkzeugen einer Gewaltherrschaft, die ohne die Mitarbeit dieser vielen Verwaltungsexperten nie eine solche mörderische Effizienz entfaltet hätte“, sagte Raichle.

Partei wichtiger als Leistung

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurden die Personalabteilungen in den Finanzbehörden schrittweise nazifiziert. Die Parteiarbeit habe Vorrang vor dem Leistungsprinzip, erklärte etwa der Karlsruher Finanzpräsident Hans Dehning, der davon ebenso profitierte wie etwa der NSDAP-Kreisleiter von Rottweil, Wilhelm Acker, der nach seiner Ausbildung zum Finanzinspektor eine Blitzkarriere machte. Oder Reichsbankrat Ernst Niemann, der mit willkürlichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen Schrecken im Land verbreitete. Wer dagegen politisch nicht genehm oder nicht anpassungsbereit war, wurde nicht mehr befördert, politisch ermahnt und überwacht.

Es gab aber auch Initiativen von unten: In Mannheim führten zwei Finanzämter 1935 ein Überwachungssystem ein, das später auch andernorts angewandt wurde. Sie leiteten die Daten von 600 Juden, die „steuerlich von Interesse waren“, an Zoll, Polizei und Gestapo weiter, um eine totale Kontrolle zu ermöglichen. 1938 wurde eine Meldepflicht für jüdische Vermögen eingeführt. Juden mussten ratenweise insgesamt 20 Prozent, später 25 Prozent ihres Gesamtvermögens abgeben – in Geld. Häufig blieb ihnen nur die Zwangsversteigerung von Immobilien und Wertsachen. In den Finanzämtern Heilbronn und Künzelsau seien die Vorgaben hart umgesetzt worden, in Mergentheim eher milde, fand Raichle heraus.

Viele Steuerunterlagen vernichtet

Für seine Arbeit wertete Raichle Akten aus unterschiedlichen Ämtern aus. Ein Großteil der Steuerunterlagen sei allerdings bei Luftangriffen zerstört worden, andere Dokumente seien vernichtet worden, um Spuren zu verwischen, sagte Wolfram Pyta, der das Projekt begleitet hat. Der Leiter der Abteilung Neue Geschichte in Stuttgart ist auch an der wissenschaftlichen Untersuchung der Landesministerien während der NS-Zeit beteiligt.
Das Finanzministerium ist bisher das einzige Ministerium, das zugleich auch die Arbeit der nachgeordneten Behörden erforschen ließ – dafür stellte es 210 000 Euro bereit. Für Finanzministerin Edith Sitzmann (Grüne), die ebenfalls Historikerin ist, ist die Untersuchung, die noch ihr Vorgänger Nils Schmid (SPD) in Auftrag gegeben hat, ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung „über das furchtbarste, dunkelste Kapitel unserer Geschichte“ – und zur Mahnung. „Es ist notwendig, die Mechanismen und die Strukturen der abscheulichen Verbrechen zu kennen – um sie nie wieder zuzulassen. Diese Kenntnis ist heute wichtiger denn je.“
Das 949-seitige Werk ist im Kohlhammer-Verlag erschienen und kostet 98 Euro. 

via https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.judenverfolgung-willige-helfer-der-nazis-in-den-finanzaemtern.939c500e-8cab-4b33-920e-8aa238aeaf36.html

dazu die Pressemitteilung des Finanzministeriums vom 07.06.2019:

Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg spielte während der Zeit des Nationalsozialismus eine aktive Rolle bei der Verfolgung von Jüdinnen und Juden. In dem sie Jüdische Mitmenschen gezielt diskriminiert und steuerlich ausplünderten, wurden die Finanzbehörden zu einem effizienten Geldbeschaffer für Aufrüstung und Kriegsführung des NS-Staats. Zu diesem Schluss kommt die Studie „Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus“, die heute in Stuttgart vorgestellt wurde. Dr. Christoph Raichle von der Universität Stuttgart widerlegt in der Untersuchung das lange vorherrschende Bild von wenig ideologisch besetzten, unbestechlichen und ausschließlich an der Sache orientierten Finanzbehörden. „Die Studie macht deutlich, dass die Oberfinanzdirektionen und die Finanzämter Teil der Judenverfolgung waren. Sie waren tief verstrickt in den Nationalsozialismus“, sagte Finanzministerin Edith Sitzmann.

Es ist die erste umfassende Untersuchung der konkreten Praxis der Finanzverwaltung der Jahre 1933 bis 1945 in den früheren Ländern Baden und Württemberg. Das Ministerium hatte die Forschungsarbeit 2012 angestoßen und mit insgesamt 210.000 Euro unterstützt.

„Die scheinbar kleine Welt der Steuern und Abgaben war lange Zeit nicht gerade im Fokus der Erforschung des Nationalsozialismus“, stellte Professor Dr. Wolfram Pyta fest, Leiter der Abteilung Neuere Geschichte des Historischen Instituts der Universität Stuttgart. „Dabei waren die Gestaltungsspielräume größer als bislang angenommen. Viele Beamte bereicherten sich hemmungslos am Hab und Gut deportierter Juden. Die Studie ist damit ein quellengesättigter Beitrag zur NS-Verbrechensgeschichte.“

Systematische Ausplünderung


Der Autor der Studie, Dr. Raichle, betonte: „Die vielen ausgewerteten Einzelfälle machen in bedrückender Weise deutlich, wie professionell und effizient die Finanzbeamtenschaft auch im Südwesten ,funktionierte', wie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vor ihrer erzwungenen Auswanderung und den Deportationen ab 1940/41 immer stärker ausgeplündert wurden. Auch Beamte, die nicht zu den fanatischen Parteiaktivisten zählten, machten sich so zu Werkzeugen einer Gewaltherrschaft, die ohne die Mitarbeit dieser vielen Verwaltungsexperten nie eine solche mörderische Effizienz entfaltet hätte.“

Für die Finanzministerin ist die Untersuchung ein beklemmender Blick zurück, der Wirkung in die Gegenwart hinein hat: „Es ist das eine, auf das furchtbarste, dunkelste Kapitel der Geschichte unsere Landes zu schauen und zu sagen: nie wieder“, so Sitzmann. „Es ist das andere, die Mechanismen und die Strukturen der abscheulichen Verbrechen zu kennen - um sie nie wieder zuzulassen. Diese Kenntnis ist heute wichtiger denn je.“

Christoph Raichle: Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus, Stuttgart: Kohlhammer 2019, 949 Seiten, 46 Abbildungen, ISBN 978-3-17-035280-3, 98 Euro.
 

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