Die von Raichle ausgewerteten Einzelfälle machen deutlich, wie professionell und effizient Finanzbeamte in den beiden Ländern daran mitwirkten, beispielsweise die 1938 vom Reich geforderte „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark einzutreiben – am Ende kamen sogar 1,1 Milliarden zusammen. Juden wurden teilweise der Steuerhinterziehung beschuldigt, vor ihrer Auswanderung oder Deportation mussten sie den allergrößten Teil ihres Vermögens abliefern. „Auch Beamte, die nicht zu den fanatischen Parteiaktivisten zählten, machten sich so zu Werkzeugen einer Gewaltherrschaft, die ohne die Mitarbeit dieser vielen Verwaltungsexperten nie eine solche mörderische Effizienz entfaltet hätte“, sagte Raichle.
Partei wichtiger als Leistung
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurden die Personalabteilungen in den Finanzbehörden schrittweise nazifiziert. Die Parteiarbeit habe Vorrang vor dem Leistungsprinzip, erklärte etwa der Karlsruher Finanzpräsident Hans Dehning, der davon ebenso profitierte wie etwa der NSDAP-Kreisleiter von Rottweil, Wilhelm Acker, der nach seiner Ausbildung zum Finanzinspektor eine Blitzkarriere machte. Oder Reichsbankrat Ernst Niemann, der mit willkürlichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen Schrecken im Land verbreitete. Wer dagegen politisch nicht genehm oder nicht anpassungsbereit war, wurde nicht mehr befördert, politisch ermahnt und überwacht.Viele Steuerunterlagen vernichtet
Für seine Arbeit wertete Raichle Akten aus unterschiedlichen Ämtern aus. Ein Großteil der Steuerunterlagen sei allerdings bei Luftangriffen zerstört worden, andere Dokumente seien vernichtet worden, um Spuren zu verwischen, sagte Wolfram Pyta, der das Projekt begleitet hat. Der Leiter der Abteilung Neue Geschichte in Stuttgart ist auch an der wissenschaftlichen Untersuchung der Landesministerien während der NS-Zeit beteiligt.Das Finanzministerium ist bisher das einzige Ministerium, das zugleich auch die Arbeit der nachgeordneten Behörden erforschen ließ – dafür stellte es 210 000 Euro bereit. Für Finanzministerin Edith Sitzmann (Grüne), die ebenfalls Historikerin ist, ist die Untersuchung, die noch ihr Vorgänger Nils Schmid (SPD) in Auftrag gegeben hat, ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung „über das furchtbarste, dunkelste Kapitel unserer Geschichte“ – und zur Mahnung. „Es ist notwendig, die Mechanismen und die Strukturen der abscheulichen Verbrechen zu kennen – um sie nie wieder zuzulassen. Diese Kenntnis ist heute wichtiger denn je.“
Das 949-seitige Werk ist im Kohlhammer-Verlag erschienen und kostet 98 Euro.
via https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.judenverfolgung-willige-helfer-der-nazis-in-den-finanzaemtern.939c500e-8cab-4b33-920e-8aa238aeaf36.html
dazu die Pressemitteilung des Finanzministeriums vom 07.06.2019:
Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg
spielte während der Zeit des Nationalsozialismus eine aktive Rolle bei
der Verfolgung von Jüdinnen und Juden. In dem sie Jüdische Mitmenschen
gezielt diskriminiert und steuerlich ausplünderten, wurden die
Finanzbehörden zu einem effizienten Geldbeschaffer für Aufrüstung und
Kriegsführung des NS-Staats. Zu diesem Schluss kommt
die Studie „Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im
Nationalsozialismus“, die heute in Stuttgart vorgestellt wurde. Dr. Christoph Raichle
von der Universität Stuttgart widerlegt in der Untersuchung das lange
vorherrschende Bild von wenig ideologisch besetzten, unbestechlichen und
ausschließlich an der Sache orientierten Finanzbehörden. „Die Studie
macht deutlich, dass die Oberfinanzdirektionen und die Finanzämter Teil
der Judenverfolgung waren. Sie waren tief verstrickt in den
Nationalsozialismus“, sagte Finanzministerin Edith Sitzmann.
Es ist die erste umfassende Untersuchung der
konkreten Praxis der Finanzverwaltung der Jahre 1933 bis 1945 in den
früheren Ländern Baden und Württemberg. Das Ministerium hatte die
Forschungsarbeit 2012 angestoßen und mit insgesamt 210.000 Euro
unterstützt.
„Die scheinbar kleine Welt der Steuern und Abgaben
war lange Zeit nicht gerade im Fokus der Erforschung des
Nationalsozialismus“, stellte Professor Dr. Wolfram Pyta fest, Leiter
der Abteilung Neuere Geschichte des Historischen Instituts der
Universität Stuttgart. „Dabei waren die Gestaltungsspielräume größer als
bislang angenommen. Viele Beamte bereicherten sich hemmungslos am Hab
und Gut deportierter Juden. Die Studie ist damit ein quellengesättigter
Beitrag zur NS-Verbrechensgeschichte.“
Systematische Ausplünderung
Der Autor der Studie, Dr. Raichle, betonte: „Die
vielen ausgewerteten Einzelfälle machen in bedrückender Weise deutlich,
wie professionell und effizient die Finanzbeamtenschaft auch im
Südwesten ,funktionierte', wie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vor
ihrer erzwungenen Auswanderung und den Deportationen ab 1940/41 immer
stärker ausgeplündert wurden. Auch Beamte, die nicht zu den fanatischen
Parteiaktivisten zählten, machten sich so zu Werkzeugen einer
Gewaltherrschaft, die ohne die Mitarbeit dieser vielen
Verwaltungsexperten nie eine solche mörderische Effizienz entfaltet
hätte.“
Für die Finanzministerin ist die Untersuchung ein
beklemmender Blick zurück, der Wirkung in die Gegenwart hinein hat: „Es
ist das eine, auf das furchtbarste, dunkelste Kapitel der Geschichte
unsere Landes zu schauen und zu sagen: nie wieder“, so Sitzmann. „Es ist
das andere, die Mechanismen und die Strukturen der abscheulichen
Verbrechen zu kennen - um sie nie wieder zuzulassen. Diese Kenntnis ist
heute wichtiger denn je.“
Christoph Raichle: Die Finanzverwaltung in Baden und
Württemberg im Nationalsozialismus, Stuttgart: Kohlhammer 2019, 949
Seiten, 46 Abbildungen, ISBN 978-3-17-035280-3, 98 Euro.
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