Wenn einen etwas stört, muss man versuchen, es zu ändern. Und wenn man
nicht allein, sondern Teil einer Mehrheit ist, kann das in öffentlichen
Angelegenheiten sogar gelingen. Insofern ist der erfolgreiche Protest
der Studenten der Alice-Salomon-Hochschule gegen die für sie anstößige
Fassadengestaltung ihres Gebäudes prinzipiell inspirierend. Niemand soll
unter Umständen leben müssen, die sie oder ihn belasten. Aus Anlass
einer sowieso fälligen Sanierung in diesem September wird die Fassade
der Hochschule jetzt tatsächlich neu gestaltet.
Allerdings ging es im konkreten Fall in Berlin-Hellersdorf
weder um Werbung noch um politische Propaganda, sondern um Kunst. Um das
aus dem Jahr 1951 stammende Gedicht „ciudad (avenidas)“, auf deutsch
„stadt (straßen)“, von Eugen Gomringer, das minimalistisch und in nur
acht Zeilen in rhythmischer Steigerung auf Spanisch um die Worte
„Straßen“, „Blumen“ und „Frauen“ kreist und am Ende einen „Bewunderer“
dazusetzt: „avenidas/avenidas y flores// flores/ flores y mujeres//
avenidas/ avenidas y mujeres// avenidas y flores y mujeres y/ un
admirador“.
Wer Anzüglichkeiten sucht, kann sie überall finden, also auch hier.
Aber die meisten Passanten dürften die 2011 angebrachten Zeilen, wenn
sie die Übersetzung gegoogelt hatten, doch eher gefreut haben. Mehrheit
ist immer relativ. Hermeneutik sowieso. Und Geschmack erst recht. Einem
diffusen Unbehagen auf der Seite der Studentenschaft steht längst der
konkrete persönliche Schaden gegenüber, den der 1925 geborene
schweizerisch-bolivianische Dichter Gomringer erlitt. Und das
inspirierend Widerständige eines Veränderungsimpulses hat sich aufgrund
mangelnder Verhältnismäßigkeit im Diskurs – der ehemalige Hellersdorfer
Stadtrat Heinrich Niemann sprach in dieser Zeitung von einem
„Bildersturm soft“ – hier als sein Zerrbild gezeigt: als Doktrin. ... [mehr] http://www.fr.de/kultur/literatur/alice-salomon-hochschule-selbstgerechtigkeit-statt-kunst-a-1573594
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