Gemeinhin stellt man sich unter einem Archiv
dunkle, verwinkelte Kellerräume vor, deren vom Staub der Jahrhunderte
geschwängerte Luft sich muffig und schwer auf die Lunge legt. Das Personal
entspringt in vielen Köpfen eher einem wilhelminischen Herrschaftshaus: die
Archivarin eine verhärmte Dame älteren Semesters mit strenger Frisur und
stechendem Blick, der Archivar vom Typ mürrisch-zerstreuter Professor mit
Kneifer und Pfeife. Ein wenig einladendes Bild, welches sich seit Generationen
erstaunlich hartnäckig hält.
Mein Praktikum im
Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv gestattete mir sowohl einen Blick auf
das antiquierte Bild vergangener Zeiten als auch neuzeitlicher Archivwirtschaft.
Hier vereint sich Sammelleidenschaft mit Bürokratie, Nostalgie mit moderner
Informationsdienstleistung. Die Archivarin ist weder verhärmt noch streng
frisiert – sie lacht viel und gerne, heißt Besucher herzlich willkommen und
gerät ganz nach historischem Vorbild ins Schwelgen, wenn es um “ihre” Bestände
geht. Strenge Blicke bekommt hier nur, wer die Archivalien nicht pfleglich
behandelt. Auch der Leiter, heutzutage “Geschäftsführer” genannt, seines
Zeichens Historiker, trägt weder Kneifer noch erkaltete Pfeife – dafür meist
ein freundliches, beinahe amüsiertes Lächeln.
Eine angenehme Atmosphäre
zwischen Büchern, Regalen voller Archivschachteln und Stapeln für Nutzer
ausgehobenen Archivguts. Dem Wissen, dass sich hinter jeder Ecke, in jedem Winkel
noch ein Kleinstbestand finden lässt, der nur darauf wartet wiederentdeckt zu
werden. Und irgendwie hat hier jeder einen Liebling unter den Beständen – eine
Sammlung, einen Vor- oder Nachlass, der einem besonders am Herzen liegt. Ich
habe mich in den vergangenen Monaten durch Papiere, Fotos, Zeichnungen, Akten,
Grußkarten, Reklamemarken, Briefköpfe, Grundrisse, Mappen, Ordner, Schachteln
und Kisten gewühlt. Habe verzeichnet, erschlossen, gelocht, entmetallisiert,
entfaltet, entrollt, eingeheftet und neu verpackt. Datenbanken gefüttert und
überarbeitet. Kisten entleert, aufgefaltet, umgestapelt, zugefaltet, neu
gefüllt und wieder gestapelt. Regale umgeordnet, ausgeräumt und wieder gefüllt.
Jeder leere Regalboden, jeder verfügbare Laufmeter eine Errungenschaft – neue
(Zwischen)Heimat für ein Stück regionaler Unternehmensgeschichte.
Und zwischendurch telefonische
Anfragen nach Lehrzeitbestätigungen, Kindheitserinnerungen,
Archivbesichtigungen, Unternehmensbeständen:
“Guten Tag. Ich habe 1978 eine
Lehre angefangen, aber nach drei Monaten abgebrochen. Nun finde ich den Vertrag
nicht mehr. Können Sie mir eine Kopie schicken?”, “Juten Tach. Mein Großvater
hatte so’n kleenen Lebensmittelladen, ick weeß aber die Straße nich mehr.
Können Sie nich ma nachsehen?”, “Hallo. Mein Cousin hat damals in Berlin seine
Ausbildung gemacht und nun will er Rente beantragen. Ich brauche die
Ausbildungsbescheinigung aber schnell – wir haben den Termin übermorgen.”,
“Guten Morgen. Ja, also, mein Vater, der hat Geburtstag und da möchte ich ihm
was schenken. Der hat ja nu damals seine Ausbildung bei einer Baufirma gemacht.
Und nach der Prüfung da hat er sein Zeugnis ja nicht abgeholt, wissen Sie? Und
das wollte ich ihm jetzt schenken. Kann ich denn mal bei Ihnen vorbeikommen und
es jetzt für ihn mitnehmen?”.
So vielfältig wie die Anfragen
sind auch die Bestände, Langeweile kam hier nicht auf. Und wenn beim nächsten
Klingeln des Telefons die Worte “Juten Tach, ick hab da mal ‘ne Fraje…” fallen,
ist vielleicht das benötigte Stück Vergangenheit im Jetzt und Hier greifbarer.
Ein gutes Gefühl, daran teilgehabt zu haben.
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