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Montag, 11. November 2019

Cem Özdemirs Schillerrede: „Stehen wir ein für unsere Freiheit − oder nicht?“ / Uschi Götz. Deutschlandfunk Kultur 10.11.2019

Cem Özdemir hat in seiner Schillerrede an den „Dichter der Freiheit“ erinnert. Der Grünen-Politiker mahnte, all die übrigen Menschen mit unbändigem Freiheitswillen, die für ihre Texte eingekerkert sind, nicht zu vergessen.
Bevor Cem Özdemir heute vor das vor allem aus Schiller-Kennern bestehende Publikum in Marbach trat, stand ein Bekenntnis am Rande der Bühne. Er sagte:
„Als ich die Anfrage für die Schillerrede hatte, war ich erst mal wahnsinnig nervös neben dem, dass ich mich tierisch geehrt gefühlt habe. Und dann fühlte ich mich quasi wieder wie der Schüler in der Schulbank: Ich habe Schiller gelesen, ich habe Schiller gehört, die Hörbücher, und ich habe Schiller-Filme gesehen. Also alles, was ich konnte, habe ich mir in jeder freien Minute versucht reinzuziehen.“
In seiner dann folgenden Rede gab der Politiker offen seine Lücken zu: „Ich stehe hier als einer von vielen Menschen in diesem Land, bei deren Geburt eine Einladung als ‚Schillerredner‘ ungefähr genauso denkbar war wie ein Flug zum Mond. Wobei bemannte Raumfahrt bei uns zu Hause durchaus ein Thema war, Friedrich Schiller war es nicht.“
Der Grünen-Politiker wuchs im schwäbischen Urach auf, rund 50 Kilometer sind es von dort bis in Schillers Geburtsstadt Marbach am Neckar. Özdemir besuchte zunächst die Hauptschule, später wechselte er auf die Realschule:
„Aber anders als wohl den meisten hier im Saal begegnete Schiller mir nicht in der Schule und eben auch nicht zu Hause. Nein, Schiller ist mir zum ersten Mal auf den Buchrücken in den Regalen meiner Uracher Freunde aus Bildungsbürgerfamilien begegnet.“
Er habe nun viel nachgelesen über Schiller, sagte Özdemir. Heute fühle er eine gewisse Verbundenheit, schließlich sei er wie der Dichter ja auch ein Schwabe. Für ihn sei Schiller ein politischer Denker: „Ein Dichter der Freiheit, ein Bürger, ein Citoyen im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Was ist unser heutiger Zugang zu Schiller?“, fragte der Grünen-Politiker in einen überfüllten Saal. Um heute mit damals vergleichen zu können, rief er die turbulente Uraufführung des Dramas „Die Räuber“ 1782 in Mannheim in Erinnerung. Damals sei das Publikum elektrisiert gewesen:
„Schiller hatte mit seiner Sprache, mit seinen Themen einen Nerv getroffen. Was Schiller für mich, Kind türkischer Gastarbeiter ohne bürgerliches Elternhaus, bedeutet, das bedeutete er schon zu seiner Zeit vielen Menschen. Er war ein Dichter und Denker, der nicht die Selbstvergewisserung in engen, intellektuellen Zirkeln suchte, sondern der seine Ideen mit der Welt teilen wollte. Schiller war ein Bürger im besten Sinne des Wortes.“  
Das mache ihn heute noch so aktuell. Und damit war Cem Özdemir bei der aktuellen politischen Lage im Land. Möglichst viele Menschen zu erreichen, das sei auch die Kunst der Politik, die Kunst der Demokratie:
„Zu lange haben wir uns im Konsens eines Status quo, bei dem es uns ja irgendwie ganz gut ging, ausgeruht. Dieser Konsens existiert heute nicht mehr. Es geht heute darum, wohin sich unser Land entwickelt. Es geht wieder um das fundamentale Thema der Freiheit.“  
Wenn jeder Vierte eine rechtsradikale Partei wähle, dann müsse man darüber reden, so Özdemir mit Blick auf den Ausgang der Landtagswahl in Thüringen: „Es geht im Kern also um die Frage: Stehen wir ein für unsere Freiheit, unsere Demokratie, unser Grundgesetz, oder tun wir es nicht?“
Auffällig viele Sicherheitsbeamte schützten den Politiker während seines Auftritts in Marbach am Neckar. Hintergrund ist eine Morddrohung, die Cem Özdemir jüngst per E-Mail erhalten hat:
„Wozu sollen sie dienen? Sie sollen uns einschüchtern, uns zum Schweigen und Verschweigen bringen. Und so einschüchtern, dass der oder die ein oder andere sich genau überlegt, ob das offene Wort den Einsatz wert ist. Dies ist der eigentliche Zweck dieser Morddrohungen."
Die Drohungen würden der von den Fanatikern so verhassten, liberalen und offenen Bundesrepublik gelten. „Werden wir standhalten?“, fragt Özdemir in seiner Rede anlässlich des 260. Geburtstags von Friedrich Schiller: 
„Sich in einer Demokratie dem Hass mit dem Wort entgegenzustellen und in einem Rechtsstaat durch die Polizei geschützt zu werden, ist ein großes Privileg. Ein Privileg, das viele andere nicht genießen. In vielen Ländern dieser Welt sind die Schillers immer noch bedroht.“
Um frei schreiben zu können, floh einst Friedrich Schiller aus dem Württembergischen ins kurpfälzische Mannheim. Der Flucht vorausgegangen waren zwei Wochen Arrest und ein von Herzog Carl Eugen erteiltes Schreibverbot.
In Anlehnung an die Biografie des Dichters erinnerte Özdemir an Journalisten und Schriftsteller, die nicht frei arbeiten können, so etwa türkische Autorinnen und Autoren:  
„Ein türkischer Schiller, der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, sprach hier. Ein anderer, Ahmet Altan, wurde diese Woche, nach über drei Jahren, die er für die Texte aus seiner Feder eingekerkert war, endlich aus dem Gefängnis entlassen. Und ein anderer Schiller, Osman Kavala, sitzt immer noch ein, weil Sultan oder Herzog Erdogan ihm seinen unbändigen Freiheitswillen nicht vergeben will. Vergessen wir sie nicht, wenn wir zu Schillers Werken greifen. Ich bitte Sie darum, im Namen des großen Schiller.“

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