Eine Klicktour im Internet ersetzt keinen Museumsbesuch. Und das liegt nicht allein an der ehrfürchtig angebeteten Aura der Kunstwerke, sondern im selben Maße an einer nötigen physischen Erlebbarkeit. Die jüngst vergangenen Ausstellungen des Kunstmuseums Stuttgart musste man am eigenen Leib erfahren haben, um sie zu begreifen. Daher können die Videos auf der Webseite des verschlossenen Hauses kaum mehr geben als vage Ahnungen und Reminiszenzen. Ganz besonders im Falle von Ragnar Kjartansson. Dem isländischen Künstler war von Sommer bis Herbst vergangenen Jahres eine Ausstellung mit dem sonderbaren Titel „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ gewidmet. Im Video nun erhält man Einblicke in die Schau und in die Ideenwelt hinter einer Kunst, die zugleich berührt und sich mokiert: „Ich umgebe mich gerne mit Liebe und Sehnsucht“, sagt Ragnar Kjartansson milde lächelnd in die Kamera, „aber ich brauche auch die Scheiße, um nicht vollkommen rührselig zu werden.“
Unter der Rubrik „Museumsstorys“ erfährt der Besucher, was im Museum geschieht, während er selber draußen bleiben muss: nämlich nichts. Die Kuratorin Anne Vieth berichtet über die kommende Ausstellung „Wände/Walls“. Dieser Tage hätten dafür internationale Künstlerinnen und Künstler anreisen und Wände gestalten sollen. Das Thema lautete Raumgrenze in der Kunst seit den 1960er Jahren – im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Bis 15. Mai hätte alles fertig sein sollen und man hätte Eröffnung gefeiert. Jetzt ist alles auf den Herbst verschoben, und die Kuratorin Vieth überlegt nun, ob die Coronakrise nicht auch noch eine thematische Verschiebung erzwingt: Es geht ihr ja darum, dass Wände mehr sind als bloß architektonische Grenzen. „Etwa, dass sie schützen und zugleich ausgrenzen – und das spüren wir dieser Tage deutlich am eigenen Leib in den eigenen vier Wänden!“ Der User-Leser ist bei den Denkarbeiten hinter den Kulissen also quasi live dabei.Neben Rückblicken bietet das Kunstmuseum in Corona-Zeiten einen Sofarundgang durchs Haus. Knapp und prägnant werden die Höhepunkte der Sammlung vorgestellt, beginnend mit Alexander Calders bunter, verspielter Mobile-Skulptur aus Stahl, die vor dem nüchternen Museumsbau steht. Es folgen Inkunabeln von Otto Dix, Willi Baumeister und Dieter Roth sowie jüngere Arbeiten von Joseph Kosuth, Josephine Meckseper oder Petro Sanguineti, über seinen neonfarbenen Schriftzug „Paradise“, dessen Machart an Reklameschriftzüge erinnere, dessen Wortsinn aber in spirituelle Sphären weise. Statt fertiger Interpretationskits werden dem Leser Denkanstöße gereicht: „Verweist dieser Schriftzug eigentlich auf eine sakrale Komponente, die dem Konsum in Form von irdischer Verheißung anhaftet?“ Trotz seiner Häppchenhaftigkeit verlangt der virtuelle Rundgang gehirnliche Selbsttätigkeit.
Virtueller Rundgang: https://www.kunstmuseumdigital.de/
Kathrin Wesely in: Stuttgarter Zeitung 17.04.2020
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