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Freitag, 13. März 2020

Wenige Tage trennen Deutschland von Italien / Tobias Mörschel In: IPG 13.03.2020

Ein kleines Gedankenexperiment in Zeiten von Corona: Man stelle sich vor, Bundeskanzlerin Merkel und Gesundheitsminister Spahn hätten auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz am Mittwoch #DeutschlandbleibtzuHause als das Motto für die kommenden Wochen ausgerufen und folgendes Maßnahmenpaket zur Bekämpfung und Eindämmung des Coronavirus verkündet: Ab sofort wird bundesweit der Schul- und Universitätsbetrieb eingestellt. Alle Tagungen, Konferenzen, Meetings und Kongresse sind bis auf weiteres verboten. Bibliotheken und Archive haben ihre Pforten zu schließen. Das gesamte kulturelle Leben wird einstweilen eingestellt: Alle Museen, Ausstellungen und Sehenswürdigkeiten werden dichtgemacht. Theater, Opern und Kinos stellen ihren Spielbetrieb ein. Konzerte haben auszufallen.
Damit aber nicht genug: Auch alle Clubs, Diskotheken und Bars dürfen nicht mehr öffnen. In ganz Deutschland dürfen keine Gottesdienste mehr gefeiert werden, es finden weder Hochzeiten noch Beerdigungen statt. Alle Sportereignisse sind abgesagt, Fitnessstudios und Sportstätten geschlossen. Restaurants, Cafés und Spätis müssen ausnahmslos ab sofort den Betrieb einstellen. Sämtliche Geschäfte sind in ganz Deutschland umgehend zu schließen, lediglich Lebensmittelläden und Apotheken dürfen weiterhin geöffnet sein.
Und schließlich wird gleichsam eine Ausgangssperre verhängt: Die eigene Wohnung sollte ab sofort bestenfalls nicht mehr verlassen werden. Private Feste und Zusammenkünfte sind zu unterlassen, auch gemeinsame Abendessen mit Freunden zu Hause. Die Wohnung darf nur noch aus wenigen Gründen verlassen werden: aus gesundheitlichen Gründen, zum Lebensmitteleinkauf oder weil man auf dem Weg zur Arbeit ist. Wenn man das Haus verlässt, ist auf einen Abstand von mindestens 1,5 Metern zum nächsten Menschen zu achten, Menschenansammlungen sind verboten. Und wer sich unbefugt im Land bewegt, dem droht gar Haft. Eine gespenstische Stille würde sich über die leergefegten Städte senken.
Nichts davon konnte man in Deutschland bisher hören.
Wäre es gesagt worden, wäre kaum vorstellbar, dass Merkel für ein solches per Dekret verordnetes Maßnahmenpaket von allen Seiten Zustimmung erhalten hätte und über 90 Prozent der Bevölkerung es befürworten würden. Und noch weniger scheint vorstellbar, dass sich die Deutschen ohne Protest an die Vorschriften hielten, alle Läden dichtmachten, zuhause blieben und derartig weitreichende Eingriffe in ihre Grundrechte der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit schlicht akzeptierten. 
Dieses Szenario mag für die meisten wie Science-Fiction klingen, ist in Italien aber jetzt Realität. Innerhalb einer Woche hat die italienische Regierung mit drei sich einander verschärfenden Dekreten das öffentliche Leben völlig zum Stillstand gebracht und ein Maßnahmenbündel erlassen, das historisch in einer westlichen Demokratie ohne Vorbild ist. Dass im katholischen Italien keine Messen mehr gefeiert werden und der Petersdom die Pforten schließt, das hat es selbst zu schwersten Pestzeiten nicht gegeben. Und dass die Italiener ihr soziales Leben von Bozen bis Palermo umstandslos einstellen und einander meiden statt miteinander auszugehen, das ist ein historisch beispielloser Akt von Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl.
Ganz genau sollte Europa jetzt nach Italien schauen und von Italien lernen, wie das Land innehält, um eine Krise von bedrohlichem Ausmaß in vielleicht letzter Sekunde doch noch abwenden zu können. Die Infektionszahlen der mit dem Coronavirus Erkrankten sind in den letzten Tagen in Italien gleichsam explodiert. Es droht ein völliger Kollaps des Gesundheitssystems. Wenn selbst die hocheffizienten und bestens ausgestatteten Krankenhäuser der Lombardei bald nicht mehr ausreichend Intensivplätze zur Verfügung haben, um alle Patienten mit schweren Verläufen zu behandeln, dann wird dies in schwächer entwickelten Regionen Italiens (und sicher auch bei dem überwiegenden Rest Europas) noch viel weniger der Fall sein. Das Land soll durch diese drastischen Maßnahmen gleichsam sediert werden. Dadurch, dass jede unnötige Bewegung verboten wird, soll die Möglichkeit der Ausbreitung eingedämmt werden, mit dem Ziel, die Infektionskurve abzuflachen und somit eine ausreichende medizinische Versorgung der schwer Erkrankten zu ermöglichen.
Zehn Tage, exakt zehn Tage trennen Deutschland von Italien! Vor zehn Tagen hatte Italien dieselben Fallzahlen von mit dem Coronavirus infizierten Personen wie Deutschland sie heute hat. Und es besteht kein Grund zur Annahme, dass das Virus sich in Deutschland langsamer verbreiten wird. Deswegen sollte Deutschland sehr aufmerksam Richtung Süden schauen und sehr schnell von Italien lernen. Dies passiert bis dato noch nicht – im Gegenteil, man mokiert sich über die italienische Organisationskultur. Es gilt, schnell und entschlossen zu handeln und zu vermeiden, was anfänglich in Italien schief lief. Es gab jedoch nichts, an dem sich Italien hätte orientieren können. Die übrigen europäischen Länder finden hier jedoch nun Blaupausen und können damit wertvolle Zeit gewinnen – sie müssen nur den Mut haben, den die italienische Regierung bewiesen hat, und die Menschen müssen den Gemeinsinn aufbringen, den die Italiener gezeigt haben. 

via https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/wenige-tage-trennen-deutschland-von-italien-4154/

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