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Montag, 16. Dezember 2019

Kulturpolitik: Ende des Türhütertums?

Juryarbeit ist ein Motor unseres Kulturbetriebes. Oder vielleicht sollte man sagen: Sie war es. Sie war es aber sehr lange und mit hoher Drehzahl. Wenn man den Begriff der „Jury“ nicht nur auf temporäre Auswahlkommissionen beschränkt, sondern jeden einschließt, der Entscheidungen über den Zugang zu Produktionsmitteln oder Präsentationsformen trifft, gab es Hunderte von Jahren kaum Kunst, die außerhalb eines jurierten Raumes ihr Publikum fand. Immer war da jemand, der darüber befand, wer ein Kunstwerk schaffen und veröffentlichen durfte und unter Umständen sogar: welches.    
Erst nahmen Fürsten oder Kirchenfunktionäre diese Aufgabe wahr, dann bürgerliche Mäzene, später Dramaturgen, Lektoren oder Kuratoren. In Zeiten der staatlichen Subventionierung auch außerinstitutionell entstehender Kunst berufen Kulturpolitiker Expertenjurys ein, um Förderungswürdiges herauszufiltern. Zugangsbeschränkung zum Aufmerksamkeitsmarkt galt lange als Voraussetzung für ein Kulturleben, das für das Publikum überschaubar und vertrauenswürdig ist: Unabhängige Menschen mit Sachverstand wählen aus der Masse der Ideen, Projekte, Stücke, Skripte diejenigen aus, die ihrer Ansicht nach das Geld und die Mühe lohnen. 
Sie können falsch liegen. Oder doch nicht so unabhängig sein. Oder keinen Sachverstand haben. Aber das hatte die prinzipielle Gültigkeit des Systems bisher nicht beschädigt. Auch Jurys im engeren Sinne, Gremien, die Preise oder Stipendien vergeben, sind eine enorme Größe im Kulturbetrieb. Die Website Kulturpreise.de listet allein für den Bereich Literatur rund 1000 verschiedene Initiativen in Deutschland auf, vom Alemannischen Literaturpreis (10.000 Euro) über den Göttinger Elch (3333 Euro) bis hin zum Würth-Preis für Europäische Literatur (25.000 Euro). Mindestens weitere 5000 Auszeichnungen in anderen Genres kommen hinzu.
Überall muss juriert werden, und auch da können die Entscheider nicht ausreichend qualifiziert sein oder einen zu engen Sichtungshorizont haben oder es an Unabhängigkeit fehlen lassen. Tatsächlich dürfte das sogar die Regel sein. Welcher Künstler – im Falle von Künstlerjurys – verbringt schon sein Leben damit, die Arbeit von Kollegen zur Kenntnis zu nehmen? So wählt man den, den man gut kennt, nicht selten aus der Zusammenarbeit. Und welcher Kritiker oder Kulturbetriebsmitarbeiter wäre frei von persönlichen Vorlieben? Tatsächlich gibt es ja keine verbindlichen Kriterien für „gute“, womöglich „die beste“ Kunst. Alleinige Kuratoren- und Juryschaft steht daher zu Recht im Verdacht des Geschmäcklertums und der Parteilichkeit. 
Die Entscheidungen von Mehrpersonenjurys indessen unterliegen innerbetrieblichen Dynamiken: Am Ende jeder Auswahldiskussion wirft die Jury, wenn sie nicht ohnehin schon auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zugesteuert ist, pragmatische Parameter in die Waagschale. Im besseren Fall gleicht sie – seit einigen Jahren! – Geschlecht und Herkunft der Künstler, Themen und Formen mit denen der Preisträger der Vorjahre ab und votiert für größtmögliche Varianz. Im schlechteren Fall und gerade bei mehrjährig tätigen Jurys wird hingegen durchaus auf der Grundlage des internen Wechselkurses von Gefälligkeiten entschieden. So oder so ist es bei der Bepreisung wie im wirklichen Leben: Nur eine oder einer kann das jeweils nächste Topmodel dieses einen Preises in jener Vergaberunde werden.
Dies alles in Betracht gezogen, hat Preisträgerschaft immer etwas Beliebiges. Einer wird ausgezeichnet, aber es hätte ebenso ein anderer sein können. Trotzdem schätzen Künstler nicht nur die Preise, die sie selbst bekommen. Denn anlässlich von Preisverleihungen wird jeweils auch das Genre als solches in den würdigenden Blick genommen, was existenzsichernde Sichtbarmachung für alle bedeutet. Seit einiger Zeit ist die Veröffentlichung von Longlists und Shortlists ein Versuch, die streng pyramidale Vergabepraxis bei Großereignissen etwas aufzuweichen. Schon Teil einer verengten Auswahl zu sein, sei eine Auszeichnung, ist die Botschaft, etwa beim Deutschen Buchpreis.
Und das Berliner Theatertreffen hat immer schon Wert darauf gelegt, keinen Preis zu vergeben, sondern ein ganzes Tableau „bemerkenswerter“ Inszenierungen zu präsentieren. Solange es zehn sind wie in diesem Fall, zehn aus etwa vierhundert, die die jurierenden Theaterkritiker im Laufe eines Jahres ansehen, erfüllt das weiterhin die Konvention der erfassbaren Auswahl. Was aber, wenn die sieben Juroren einmal sagten, sie könnten keine Auswahl treffen, weil alles Gesehene gleichermaßen auszeichnungswürdig sei? 
Viel diskutiert wurde im Mai die Jury-Anordnung der Theatertreffenleitung, bei der Auswahl der Regieleistungen in den nächsten beiden Jahren eine Frauenquote von mindestens 50 % zu berücksichtigen. Dass sich die spontane Empörung von vielen Seiten über eine solche Beschneidung fachlicher Autonomie schnell beruhigte, lag sicher nicht nur daran, dass das zu erreichende Ziel in aller Augen die Sache wert war. Sondern auch im Bewusstsein, dass es Heuchelei wäre, zu behaupten, die Sichtungskriterien wären ohne Vorgaben auch nur annähernd objektiv.
Dass sich der gesellschaftliche Blick auf die Gesellschaft weitet und immer mehr Gruppen repräsentiert sein wollen, und zwar in einer Weise, über die sie selbst bestimmen, mag im Übergang zuweilen etwas erzwungen wirken. Es ist aber wohl notwendig, um den Zwang der herrschenden Repräsentationsübermacht kenntlich zu machen und zu durchbrechen. Nur weil man sich daran gewöhnt hat, auf allen Treppchen weiße Männer stehen zu sehen, heißt das ja nicht, dass es das Natürliche wäre.
Auch dass sich im Bemühen um faire Repräsentation und politische Korrektheit zunehmend kunstfremde Parameter in die Beurteilung künstlerischer Arbeiten einschleichen, mag einerseits als Zwischenphänomen gerechtfertigt, andererseits angesichts immer stärkerer politischer Inhalte in der Kunst sogar geboten sein. Wo die Ästhetik nicht länger die wichtigste Botschaft ist, muss das ästhetische Urteil in den Hintergrund treten. Und mit ihm die nach ästhetischen Kriterien wertende Jury. 
Beim britischen Turner-Preis für Bildende Kunst in diesem Jahr haben die vier Kandidaten der Shortlist, deren Werk vor der Entscheidung traditionell gemeinsam ausgestellt wird – in diesem Fall Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock, Oscar Murillo und Tel Shani –, die Schlussdiskussion der Auswahljury mit der Bitte gestoppt, es bei der Shortlist zu belassen und das Preisgeld (40.000 Pfund) zu gleichen Teilen unter ihnen aufzuteilen.
Ihr gemeinsamer öffentlicher Auftritt bei der Verleihung am 3. Dezember, bei dem die vier, die sich zuvor gar nicht gekannt hatten, tatsächlich wirkten wie eine verschworene Gang, war extrem sympathisch und ihr Statement berührte: Trotz unterschiedlichster Themen und Arbeitsweisen sei ihren Arbeiten ein Ethos gemein, und sie wollten den Preis dazu nutzen, öffentlich für Gemeinschaftlichkeit, Vielfalt und Solidarität einzutreten. ... [mehr] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/ende-des-tuerhuetertums-li.3220


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