Erst
nahmen Fürsten oder Kirchenfunktionäre diese Aufgabe wahr, dann
bürgerliche Mäzene, später Dramaturgen, Lektoren oder Kuratoren. In
Zeiten der staatlichen Subventionierung auch außerinstitutionell
entstehender Kunst berufen Kulturpolitiker Expertenjurys ein, um
Förderungswürdiges herauszufiltern. Zugangsbeschränkung zum
Aufmerksamkeitsmarkt galt lange als Voraussetzung für ein Kulturleben,
das für das Publikum überschaubar und vertrauenswürdig ist: Unabhängige
Menschen mit Sachverstand wählen aus der Masse der Ideen, Projekte,
Stücke, Skripte diejenigen aus, die ihrer Ansicht nach das Geld und die
Mühe lohnen.
Sie können falsch liegen.
Oder doch nicht so unabhängig sein. Oder keinen Sachverstand haben.
Aber das hatte die prinzipielle Gültigkeit des Systems bisher nicht
beschädigt. Auch Jurys im engeren Sinne, Gremien, die Preise oder
Stipendien vergeben, sind eine enorme Größe im Kulturbetrieb. Die
Website Kulturpreise.de listet allein für den Bereich Literatur rund
1000 verschiedene Initiativen in Deutschland auf, vom Alemannischen
Literaturpreis (10.000 Euro) über den Göttinger Elch (3333 Euro) bis hin
zum Würth-Preis für Europäische Literatur (25.000 Euro). Mindestens
weitere 5000 Auszeichnungen in anderen Genres kommen hinzu.
Überall
muss juriert werden, und auch da können die Entscheider nicht
ausreichend qualifiziert sein oder einen zu engen Sichtungshorizont
haben oder es an Unabhängigkeit fehlen lassen. Tatsächlich dürfte das
sogar die Regel sein. Welcher Künstler – im Falle von Künstlerjurys –
verbringt schon sein Leben damit, die Arbeit von Kollegen zur Kenntnis
zu nehmen? So wählt man den, den man gut kennt, nicht selten aus der
Zusammenarbeit. Und welcher Kritiker oder Kulturbetriebsmitarbeiter wäre
frei von persönlichen Vorlieben? Tatsächlich gibt es ja keine
verbindlichen Kriterien für „gute“, womöglich „die beste“ Kunst.
Alleinige Kuratoren- und Juryschaft steht daher zu Recht im Verdacht des
Geschmäcklertums und der Parteilichkeit.
Die Entscheidungen von
Mehrpersonenjurys indessen unterliegen innerbetrieblichen Dynamiken: Am
Ende jeder Auswahldiskussion wirft die Jury, wenn sie nicht ohnehin
schon auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zugesteuert ist, pragmatische
Parameter in die Waagschale. Im besseren Fall gleicht sie – seit
einigen Jahren! – Geschlecht und Herkunft der Künstler, Themen und
Formen mit denen der Preisträger der Vorjahre ab und votiert für
größtmögliche Varianz. Im schlechteren Fall und gerade bei mehrjährig
tätigen Jurys wird hingegen durchaus auf der Grundlage des internen
Wechselkurses von Gefälligkeiten entschieden. So oder so ist es bei der
Bepreisung wie im wirklichen Leben: Nur eine oder einer kann das jeweils
nächste Topmodel dieses einen Preises in jener Vergaberunde werden.
Dies
alles in Betracht gezogen, hat Preisträgerschaft immer etwas
Beliebiges. Einer wird ausgezeichnet, aber es hätte ebenso ein anderer
sein können. Trotzdem schätzen Künstler nicht nur die Preise, die sie
selbst bekommen. Denn anlässlich von Preisverleihungen wird jeweils auch
das Genre als solches in den würdigenden Blick genommen, was
existenzsichernde Sichtbarmachung für alle bedeutet. Seit einiger Zeit
ist die Veröffentlichung von Longlists und Shortlists ein Versuch, die
streng pyramidale Vergabepraxis bei Großereignissen etwas aufzuweichen.
Schon Teil einer verengten Auswahl zu sein, sei eine Auszeichnung, ist
die Botschaft, etwa beim Deutschen Buchpreis.
Und
das Berliner Theatertreffen hat immer schon Wert darauf gelegt, keinen
Preis zu vergeben, sondern ein ganzes Tableau „bemerkenswerter“
Inszenierungen zu präsentieren. Solange es zehn sind wie in diesem Fall,
zehn aus etwa vierhundert, die die jurierenden Theaterkritiker im Laufe
eines Jahres ansehen, erfüllt das weiterhin die Konvention der
erfassbaren Auswahl. Was aber, wenn die sieben Juroren einmal sagten,
sie könnten keine Auswahl treffen, weil alles Gesehene gleichermaßen
auszeichnungswürdig sei?
Viel diskutiert wurde im Mai die Jury-Anordnung der
Theatertreffenleitung, bei der Auswahl der Regieleistungen in den
nächsten beiden Jahren eine Frauenquote von mindestens 50 % zu berücksichtigen. Dass sich die spontane Empörung von vielen Seiten über eine solche
Beschneidung fachlicher Autonomie schnell beruhigte, lag sicher nicht
nur daran, dass das zu erreichende Ziel in aller Augen die Sache wert
war. Sondern auch im Bewusstsein, dass es Heuchelei wäre, zu behaupten,
die Sichtungskriterien wären ohne Vorgaben auch nur annähernd objektiv.
Dass
sich der gesellschaftliche Blick auf die Gesellschaft weitet und immer
mehr Gruppen repräsentiert sein wollen, und zwar in einer Weise, über
die sie selbst bestimmen, mag im Übergang zuweilen etwas erzwungen
wirken. Es ist aber wohl notwendig, um den Zwang der herrschenden
Repräsentationsübermacht kenntlich zu machen und zu durchbrechen. Nur
weil man sich daran gewöhnt hat, auf allen Treppchen weiße Männer stehen
zu sehen, heißt das ja nicht, dass es das Natürliche wäre.
Auch
dass sich im Bemühen um faire Repräsentation und politische Korrektheit
zunehmend kunstfremde Parameter in die Beurteilung künstlerischer
Arbeiten einschleichen, mag einerseits als Zwischenphänomen
gerechtfertigt, andererseits angesichts immer stärkerer politischer
Inhalte in der Kunst sogar geboten sein. Wo die Ästhetik nicht länger
die wichtigste Botschaft ist, muss das ästhetische Urteil in den
Hintergrund treten. Und mit ihm die nach ästhetischen Kriterien wertende
Jury.
Beim britischen Turner-Preis für Bildende Kunst in diesem Jahr haben die
vier Kandidaten der Shortlist, deren Werk vor der Entscheidung
traditionell gemeinsam ausgestellt wird – in diesem Fall Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock, Oscar Murillo und Tel Shani –,
die Schlussdiskussion der Auswahljury mit der Bitte gestoppt, es bei
der Shortlist zu belassen und das Preisgeld (40.000 Pfund) zu gleichen
Teilen unter ihnen aufzuteilen.
Ihr
gemeinsamer öffentlicher Auftritt bei der Verleihung am 3. Dezember,
bei dem die vier, die sich zuvor gar nicht gekannt hatten, tatsächlich
wirkten wie eine verschworene Gang, war extrem sympathisch und ihr
Statement berührte: Trotz unterschiedlichster Themen und Arbeitsweisen
sei ihren Arbeiten ein Ethos gemein, und sie wollten den Preis dazu
nutzen, öffentlich für Gemeinschaftlichkeit, Vielfalt und Solidarität
einzutreten. ... [mehr] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/ende-des-tuerhuetertums-li.3220
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