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Donnerstag, 26. Dezember 2019

Als Edgar Allen Poe sterben und heiraten wollte / Elmar Krekeler. WELT 25.12.2019

Weihnachten 1848: Der verzweifelte Edgar Allan Poe hat plötzlich Hoffnung geschöpft. Eben noch hat er versucht, sich das Leben zu nehmen. Jetzt steht auf einmal seine Hochzeit bevor. Doch dann geht alles schief. 
Ein Tuch ist um seinen Hals geschlungen, als müsse es etwas kaschieren. Alles hängt windschief in seinem Gesicht. Die Daguerreotypie zeigt den wahrscheinlich verlebtesten 39-Jährigen der amerikanischen Literatur am 9. November 1848. Vier Tage vorher hatte Edgar Allan Poe eine Überdosis Laudanum genommen, einen Teil erbrochen und überlebt. Davon hatte er am 7. November Annie berichtet, die gar nicht Annie hieß.
Es war ein schreckliches Jahr gewesen für Eddy, wie er sich in den Briefen an Annie nannte, eine der beiden Frauen, zwischen denen er sich nicht entscheiden konnte. Ganze 166 Dollar hatte er eingenommen. Eine poetische Kosmologie von goethischem Anspruch und Umfang geschrieben, die wie aus Blei gegossen in den Regalen lag.
Der Hass der Ostküstenliteraturschickeria, selbst geschürt, weil er sich über all die Literaturhofschranzen lustig gemacht hatte, brach über ihn herein wie ein prähistorischer Shitstorm, blies jeden seiner Quartalsalkoholausbrüche, deren es nicht wenige gab, zum Exzess auf. Virginia war gestorben, seine Frau und Cousine, die er geheiratet hatte, als sie 13 war, die ihn bewundert und alles ertragen hatte: die Armut, die Verzweiflung.
Auf seinem Schreibtisch war sie aufgebahrt gewesen. Aus ihrer Schlafdecke hatte er sich den einzigen Wintermantel nähen lassen, den er besaß. Die Lücke, die sie ließ, versuchte er geradezu panikartig zu füllen.
Und so fieberträumte er in diesem Herbst zwischen zwei Frauen hin und her. Schrieb abwechselnd jeder von ihnen flammende Briefe. An Annie, eigentlich Nancy Locke Heywood Richmond, 28 Jahre alt, schlank, schön, verheiratet mit einem reichen und anscheinend langmütigen Papierfabrikanten.
Und an Helen, die Sarah Helen Whitman hieß, seit 15 Jahren verwitwete Dichterin, wohnhaft im Haus der Mutter, fünf Jahre älter als Poe, eine exaltierte Erscheinung in Seidentüchern, die sie bei Exaltationen gern in die nächstgelegenen Ecken feuerte.
Poes letzter Wohnsitz in Fordham, 1905
Poes letzter Wohnsitz in Fordham, 1905
Quelle: Getty Images
 
Helen bewunderte ihn, wollte ihn retten. Sie hatten sich am 21. September das erste Mal getroffen, waren spazieren gegangen auf dem Friedhof von Richmond. Sie kamen sich näher und stießen sich ab. Wohlmeinende Freunde mischten sich ein und warnten vor dem Dichter, dieser verkommenen Existenz.
Poe, eine offene Wunde von Mensch, stand ein paar Tage später – es gibt eine Daguerreotypie vom 13. November 1848, da herrscht wieder ein bisschen mehr Ordnung in seinem Gesicht – in Richmond vor Helens Haus. Es kommt zu seltsamen Szenen. Seine Stimme „war erschreckend … schrecklich bis zu Erhabenheit“. 
Dann bricht er zusammen, ein hoher Blutandrang im Kopf wird diagnostiziert. Von Alkohol ist keine Rede. Helen gibt ihr Ja-Wort. Unter Vorbehalt. Dem Alkohol soll Poe abschwören, auf jeden finanziellen Vorteil aus der Ehe verzichten. Helens Mutter bestimmt die Regeln. Poe macht mit. Am Weihnachtstag 1848 soll geheiratet werden.
Am 20. Dezember hält Poe den erfolgreichsten Vortrag seines Lebens. 2000 Zuhörer sind begeistert. Über das poetische Prinzip spricht der Dichter. Vielleicht hat er anschließend zu viel gefeiert. Vielleicht war er gar nicht alkohol-, sondern einfach anders krank, von Tollwut ist die Rede, von einer Hirnanomalie, die ihn betrunken erscheinen ließ, obwohl er es nicht war. Jedenfalls stand er vor dem Haus von Helen, für die Jahreszeit zu dünn angezogen. Sie war der Exaltationen müde. Das Aufgebot wird aufgehoben.
Ein Jahr später wird Poe halb bewusstlos in Baltimore auf der Straße gefunden. Die Kleider schmutzig, vielleicht gehörten sie nicht einmal ihm. Vier Tage später ist er tot.

via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article204569326/Actionszenen-der-Weltliteratur-Edgar-Allen-Poe.html

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