Frank Scholze ist ab Januar neuer Generaldirektor der Deutschen
Nationalbibliothek. Hier erklärt er, warum auch Bibliothekare Fehler
nicht fürchten, sondern als Entwicklungsschritt betrachten sollten -
selbst wenn ihre Arbeit normalerweise von der Genauigkeit lebt.
"Erfolg besteht darin, von Fehlschlag zu Fehlschlag zu eilen, ohne darüber die Begeisterung zu verlieren." Dieses Winston Churchill zugeschriebene Zitat
drückt zugespitzt die Erfahrungen aus, die ich in meiner zehnjährigen
Tätigkeit am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gemacht habe und
die ich unter anderem auch in meiner Antrittsrede am 13. Dezember 2019 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt/Main vermitteln wollte.
Fehlertoleranz oder Fehlerfreundlichkeit sind im Zusammenhang
mit der pragmatischen Grundhaltung zu sehen, dass es komplexe
Fragestellungen und Problemlagen gibt und dass intensive Kooperationen
und Partnerschaften ein notwendiger Teil der Art und Weise sind, mit
Komplexität umzugehen und sie zu gestalten.
Man könnte sagen, dies sei eine Binsenweisheit im Zeitalter der Digitalisierung,
aber es ist ein anspruchsvoller Weg, wenn man ihn nicht abstrakt
formuliert, sondern konkret geht. Er bedingt, dass es die einfachen und
schnellen Lösungen oft nicht gibt, aber - so paradox das klingen mag -
gerade aus dieser Einsicht entstand am KIT die pragmatische Haltung,
trotzdem genau dies zu tun: in Form kleiner Schritte und Projekte, in
Form des "leistbaren Verlustes" (Michael Faschingbauer).
Es bedeutet, in der Komplexität handlungsfähig und wirkmächtig zu
bleiben, auch weil man eine andere Fehlerkultur lebt. Weil man Fehler
als unvermeidlich nicht fürchtet, sondern als Entwicklungsschritt
betrachtet. Es bedeutet, das anzunehmen, was da ist und dies zu
gestalten. Ein konkretes Beispiel waren unsere Experimente bei KIT mit standortbezogenen Informationsdiensten
basierend auf Bluetooth-Beacons. Trotz bewährter Partnerschaften und
verschiedener kleiner Schritte wurde nichts daraus – und wir haben unter
dem Titel "Projekt gescheitert – viel gelernt" darüber publiziert.
Dirk von Gehlen hat die Erfahrungen, die wir am KIT gemacht haben, anschaulicher und theoretisch fundiert in seinem Buch "Das Pragmatismus-Prinzip"
(Piper 2018) beschrieben. Dort zitiert er Tim Harford: "Das Prinzip von
Versuch und Irrtum ist ein sehr wirkungsvoller Ansatz, um Probleme in
einer komplexen Welt zu lösen […] Dazu werden wir eine ungemütlich große
Zahl von Fehlern machen und daraus lernen müssen, statt sie zu
vertuschen oder vor unserer Umwelt oder […] gar vor uns selbst zu
leugnen. Ein solches Verhalten sind wir jedoch nicht gewohnt."
Natürlich bedeutet dies nicht, jetzt zum Beispiel nie mehr auf die
deutsche Rechtschreibung zu achten, aber es bedeutet als Einzelne und
als Organisation eine gelassenere Haltung gegenüber Fehlern zu
finden. Das geht nur durch ständiges Ausprobieren sowie dadurch, sich
und anderen Fehler zu verzeihen. Dass dies gelingen kann, möchte ich
gemeinsam mit allen Kolleginnen und Kollegen in der Deutschen
Nationalbibliothek und allen ihren Partnerinnen und Partnern
herausfinden.
Frank Scholze, Jahrgang 1968, war seit 2010 Direktor der
Bibliothek des Karlsruher Instituts für Technologie. Er hat
Bibliothekswesen, Kunstgeschichte und Anglistik studiert. Ab Januar 2020
tritt er bei der Deutschen Nationalbibliothek die Nachfolge der
langjährigen Generaldirektorin Elisabeth Niggemann an. Mehr zur Amtsübergabe hier.
via https://www.boersenblatt.net/2019-12-22-artikel-warum_wollen_sie_bei_der_deutschen_nationalbibliothek_eine_
andere_fehlerkultur_leben__herr_scholze_-sonntagsfrage.1782914.html
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