In einer berühmt gewordenen Szene floh Boris Johnson im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen 2019 vor einem Live-Fernsehinterview in ein Kühlhaus.
Als er als sich seit dreißig Jahren als erster und bislang einziger
Chef einer größeren britischen Partei entschied, dem erfahrenen
BBC-Moderator Andrew Neil kein Wahlinterview zu geben, sah sich dieser,
ebenfalls beispiellos, veranlasst, den Premierminister auf Sendung zu rügen.
Nachdem Johnson mit neuem Mandat gewählt wurde, planen seine Berater
nun, den Rundfunkbeitrag, den Fernsehbesitzer für die BBC entrichten,
abzuschaffen, wenn der Rundfunkvertrag 2027 zur Verlängerung ansteht.
Bis dahin erwägt die Regierung, die Zahlungsverweigerung zu
entkriminalisieren, sodass die BBC keine Möglichkeit mehr hat, das Geld
von Nicht-Zahlern einzufordern. Wenn der Rundfunkbeitrag, der pro
Haushalt und Jahr etwa 185 Euro beträgt, abgeschafft wird, könnte die
BBC Schätzungen zufolge bis zu 75 Prozent ihrer Einnahmen einbüßen. Wem
das bekannt vorkommt: Die AfD schlägt für Deutschland seit Jahren
Ähnliches vor.
Verfechter der Medienfreiheit sowie progressive und liberale Demokraten rund um den Erdball müssen nicht mehr in Orbáns Ungarn
und ähnlichen Ländern nach einer Gleichschaltung der Medien Ausschau
halten. Die Anfänge können nun auch in einer betagteren europäischen
Demokratie begutachtet werden: in Großbritannien. Ähnlich wie
die in Ungarn herrschende Fidesz oder die AfD in Deutschland hat
Johnsons Konservative Partei ein ausgeklügeltes Verfahren eingeleitet,
um die Medienlandschaft Großbritanniens zu verändern. Das Ziel ist die
Schwächung des kritischen Journalismus.
Wie Johnsons aktuelles Kabinett fordert auch die AfD die Abschaffung der Rundfunkgebühren, die in Deutschland jeder Haushalt zahlt, und spricht von einem
„Konzept für eine freie und unabhängige Medienlandschaft“. Die
AfD-Bundestagsfraktion lud gar zu einer „Konferenz der freien Medien“ ein,
zu deren Gästen die Stars der ultrarechten Blogger- und YouTube-Szene
gehörten. Einige Teilnehmer regten an, die AfD-Bundestagsabgeordneten
sollten Beiträge aus Mainstream-Medien – „der Systempresse“ – in den
sozialen Netzwerken nicht mehr teilen, sondern nur noch auf Beiträge
ihrer „freien Medien“ verweisen. Der AfD-Parlamentarier und
Konferenzleiter Uwe Schulz bezeichnete
die versammelten „freien Medien“ als unabhängig von politischer
Ideologie und deutete im Umkehrschluss an, die deutsche „Systempresse“
berichte einseitig.
Auch Johnsons Torys werfen der BBC seit einigen Jahren politische Einseitigkeit vor. Im Rennen um die Parteiführung 2019 bezeichnete
Johnson den Sender einmal als „Brexit Bashing Cooperation“. Ähnlich,
wie Donald Trump kritische Journalisten aus dem Weißen Haus verbannt
oder zumindest damit droht, versuchte auch Johnsons Kommunikationsteam
kürzlich, bestimmte Journalisten von einer Informationsveranstaltung mit
dem Leiter des britischen Brexit-Teams auszuschließen. Zahlreiche geladene Journalisten boykottierten daraufhin die Veranstaltung.
Deutsche Beobachter dürfte das an eine Pressekonferenz der AfD
Brandenburg im Jahr 2018 erinnern, die die geladenen Journalisten
gemeinsam verließen,
nachdem ein Bild-Reporter mit einem Frageverbot belegt worden war. Die
Solidarität der Kolleginnen und Kollegen in London verhinderte, dass
einzelne Journalisten von der Pressekonferenz in der Downing Street No.
10 ausgeschlossen wurden, doch untersagt Johnson mittlerweile seinen Kabinettsministern, in Today aufzutreten, der wichtigsten Sendung von BBC Radio 4, angeblich wegen deren unausgewogener Haltung gegenüber Tories und Brexit.
Während einzelne Journalisten beim drohenden Ausschluss ausgewählter
Medien Pressekonferenzen der britischen Regierung boykottieren mögen,
legen die Redaktionen der wichtigsten brexitfreundlichen
Boulevardzeitungen eine solche Solidarität nicht unbedingt an den Tag,
ja, sie spenden Johnsons jüngsten Manövern gegen die BBC sogar Beifall.
Die Zeitung The Sun, die dem Fox-News-Gründer Rupert Murdoch gehört,
baut in viele ihrer Berichte einen Kasten mit einem Kommentar der
Redaktion ein, den sie „The Sun says“ nennt. In einem solchen
Kommentarkasten zu einem Bericht
über die Regierungspläne für die Abschaffung der Rundfunkgebühren rief
sie ihren Leserinnen und Lesern in Erinnerung, dass die BBC „ihr einst
stolzes Ansehen verspielt hat: […] der nervtötende institutionelle
Linksdrall in den Nachrichten, in Drama und ‚Komödie‘. Die überbezahlten
Redaktionschefs, die am laufenden Band pseudosozialen Quatsch
produzieren, weil sie wissen, dass die Milliardeneinnahmen weiter
sprudeln.“
Die Nähe zwischen den großen britischen Boulevardblättern wie der Sun
und den regierenden Tories mag an die Beziehung zwischen den
ungarischen Medienoligarchen
und Orbáns Fidesz erinnern. Doch in der Praxis ähnelt sie eher der
Dynamik zwischen Donald Trump und Fox News. Während sich Orbán die
Loyalität der Oligarchen durch das Verteilen öffentlicher Gelder
sichert, versucht die britische Boulevardpresse seit jeher, die
öffentliche Meinung – und die Regierung – in wichtigen Fragen zu
beeinflussen. Im Jahr 2016 unterstützte sie den Brexit, obwohl der konservative Premierminister David Cameron für den Verbleib in der EU warb.
Die Blätter unterstützen oft Politiker, die ihre politischen Ziele
verfolgen, und überziehen die anderen mit gefährlich populistischer
Kritik. Im Jahr 2016 brachte
die Daily Mail nach einem Gerichtsurteil, das die Zeitung als
juristischen Winkelzug gegen den Brexit auffasste, auf der Titelseite
Fotos dreier Richter des High Court unter der Überschrift „Volksfeinde“.
In der Mitte der oft polarisierten, zeitweise populistischen und
parteiischen Medienlandschaft Großbritanniens sitzt die BBC. 75 Prozent
der erwachsenen Bevölkerung konsumiert
Inhalte der fast 100 Jahre alten Anstalt, sei es im Fernsehen, im Radio
oder im Internet. Nicht nur die britische Rechte, sondern auch die
Linke beschuldigt die BBC mittlerweile der tendenziösen
Berichterstattung. Nach der für Labour schlimmsten Niederlage seit 1935 beklagte Schattenverkehrsminister Andy McDonald, dass Jeremy Corbyn „von den Medien unfair verteufelt“ worden sei, auch von der BBC.
Dass während und nach einer Wahl die Linke und die Rechte der BBC
politische Einseitigkeit vorwerfen, ist für den Sender ein echter
Triumph. Um für die Berichterstattung über dieselben Ereignisse von
beiden Seiten des politischen Spektrums Kritik zu ernten, muss sie in
Sachen kritischer Journalismus und unparteiische Berichterstattung
einiges richtig gemacht haben. Da die Tories unter Johnson derzeit von
der rechten Boulevardpresse viel Rückenwind erhalten, ist im
Brexit-Großbritannien der Journalismus der BBC markanter – und wichtiger
– denn je.
Johnsons öffentlicher Kampf gegen die BBC wirft auch ein Schlaglicht
auf weitere schwierige Wahrheiten. Erstens verhandelt die EU nun mit
einer weiteren zunehmend populistischen und autoritären Regierung vor
ihrer Haustür. Zweitens finden Angriffe auf die Medien als Institution
nicht mehr nur in relativ jungen Demokratien statt. Demokratische
Prinzipien können praktisch überall zurückgedreht werden, auch in
Ländern, die noch vor wenigen Jahren als Inbegriff der politischen und
wirtschaftlichen Stabilität galten.
Aus dem Englischen von Anne Emmert
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