Der November gilt als eher trüber Monat, aber 1918 bringt er Europa endlich den Waffenstillstand, der den Krieg beendet. In die französische Hauptstadt fluten die Soldaten, unter ihnen viele Verletzte, deren Köpfe bandagiert sind. Auch der schlanke, groß gewachsene junge Mann, der in diesem November so strahlend verliebt mit seiner aparten, ebenso strahlenden Begleiterin durch das Pariser Nachtleben zieht, trägt einen Kopfverband aus Khaki, der seine Haare verdeckt. Sehr gesund sieht er aus, feiert seinen Liebesrausch und weiß sich dennoch elegant im Zaum zu halten. Alles an ihm atmet Luxus, nichts deutet auf Soldatentum. Seine Liebste nennt er Luschka, sie nennt ihn Julian. Im Palais Royal haben sie eine Wohnung gemietet, wo das Glück sich fortsetzt und niemals enden soll.
Dieses Fest der Gefühle beruht auf Kostümierung: Der glanzvolle Lover ist eine Frau und heißt weder Julian noch Julia, sondern Victoria Sackville-West (1892 bis 1962), genannt Vita, einziges Kind eines adeligen Vaters und einer Mutter von peinlicher Herkunft. Vita ist 26, verheiratet und hat zwei kleine Söhne in England gelassen. Luschka ist zwei Jahre jünger und heißt Violet Keppel, später Trefusis (1894 bis 1972). So reich wie Vita ist sie längst nicht, aber doch upper class. Beide kennen sich von Kind an, im April 1918 ist die
Liebe über sie hereingebrochen.
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Violet Trefusis im Jahr 1920. Sie war seit 1919 mit dem Berufssoldaten Denys Robert Trefusis verheiratet
Quelle: Roger Viollet via Getty Images

Vita Sackville-West mit ihren Söhnen. Auch Nigel, rechts, wurde Schriftsteller
Quelle: Getty Images
Dass eine Frau als Gefährtin eines Schriftstellers zu Ruhm gelangt, hat Tradition. Dass eine schreibende Frau durch eine andere schreibende Frau berühmt werden kann, erfährt Vita ein paar Jahre später. Nicht mit Violet natürlich. Die zarte, geniale Virginia Woolf ist 1925 ein paar Tage zu Gast in Long Barn, Vitas und Harolds ländlichem Besitz. Sie lässt es zu, dass aus der Freundschaft Liebe wird. In ihrem Roman „Orlando“ porträtiert sie Vita als unsterblichen Jüngling, der sich anmutig durch ein paar Jahrhunderte schlängelt und schließlich in eine Frau verwandelt. Die Geschichte endet 1928, dem Jahr ihrer Veröffentlichung, und einer der letzten Ausrufe des/der Helden/in lautet: „Ekstase!“ Noch einmal Vita, im Rausch.
via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article206050059/Actionszenen-der-Weltliteratur-Als-Vita-Sackville-West-als-Mann-verreiste.html
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