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Montag, 11. Juni 2018

Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages: Parlamentarische Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE PV)

Die Strasse zu überqueren, ist lebensgefährlich. Vor ein paar Jahren sind aus dem Zoo der georgischen Hauptstadt Tbilissi diverse Tiere ausgebrochen – ein Nilpferd stapfte über die Boulevards, Bären trotteten durch Hinterhöfe, Löwen und Tiger pirschten durch die verwinkelten Gassen. Heute wünschte man sich, am Strassenrand stehend, sehnlichst ein Zebra herbei. Oder zumindest dessen Streifen: Irgendwo im immensen Chaos der Strasse eine Lücke zu finden und sich sicher auf die andere Seite zu bringen, stellt die Besucherin an der zentralen Rustaweli-Avenue vor eine Herkulesaufgabe. Die Georgier freilich bewältigen sie mit routinierter Leichtigkeit – geübt darin, sich durchzuschlagen, sind sie seit Jahren dabei, einen eigenen Weg zu gehen.
Schota Rustaweli spielt bei diesem Unterfangen keine geringe Rolle. Der Namensgeber der Hauptstrasse ist der berühmteste Autor Georgiens, eines Landes, das sich gerne seiner grossen Buchtradition rühmt und betont, dass es schon im 4. Jahrhundert nach Christus über erste Bibelübersetzungen verfügte. Rustaweli seinerseits wirkte im 12. Jahrhundert, in einer Epoche, die in Georgien als «goldenes Zeitalter» gilt. Unter der damals regierenden Königin Tamar erreichte das Land seine grösste Ausdehnung, kannte eine verhältnismässig fortgeschrittene Form von Rechtsstaatlichkeit – und eine blühende Kultur: Im Auftrag der Königin schuf Rustaweli sein legendäres Versepos «Der Recke im Tigerfell». Die Geschichte rund um den Edelmut eines georgischen Prinzen avancierte zur Nationalerzählung, ist bis heute jedem Kind vertraut und wird immer wieder als Kronzeugin einer genuin georgischen Literatur zitiert.
Auf diese Eigenständigkeit zu pochen, war lange Zeit ein Mittel, sich seiner selbst zu vergewissern. Unzählige Male ist Georgien im Verlauf seiner Geschichte von fremden Mächten erobert worden – Tbilissi allein hat 29 Einnahmen und Zerstörungen erlebt –, und ab 1801 stand das Land während fast 200 Jahren schier pausenlos unter russischer Herrschaft. Geschichtliche Themen und Wiedererzählungen aus grossen Zeiten dienten in dieser Situation dazu, die eigene Tradition aufrechtzuerhalten und den Verlust der Unabhängigkeit zumindest im Geist zu kompensieren. Dies mithilfe historischer Stoffe zu tun, lag umso näher, als die literarische Avantgarde, die in Georgien zu Beginn des 20. Jahrhunderts keimte und den Neuaufbruch wagte, rasch und radikal ausgelöscht wurde. Bereits 1924 erschossen die Sowjetherren Autoren, die ihnen nicht passten, ehe Stalins Terror 1937 einen Grossteil der Intelligenz vernichtete.
Im Literaturhaus, das in einer Seitenstrasse des Rustaweli-Boulevards liegt, erinnert bis heute ein schauriger Tigerkopf an das damalige Drama. Die Sowjets hatten das Prachtgebäude aus der Jahrhundertwende zum Quartier des Schriftstellerverbands bestimmt, doch mindestens einem der Autoren, die das Haus bevölkerten, schnitt der Druck des Regimes die Luft zum Leben ab. Als 1937 im Parterre des Hauses neue Auflagen zum «sowjetischen Schreiben» diskutiert wurden, begab sich der als Dandy bekannte Dichter Paolo Iaschwili in den ersten Stock und schoss sich eine Kugel in den Kopf; sein Blut soll auf den ausgestopften Tiger getropft sein, der die Residenz schon damals schmückte. Ob das mehr als eine Legende ist, lässt sich nicht entscheiden, von blossem Auge jedenfalls ist auf dem Tierkopf keine rote Farbe zu erkennen.
Auch wenn die Spuren des Fortschrittlichen während der Sowjetzeit verblasst sind: Heute ist Georgien dabei, an den damals gewaltsam durchtrennten Strang anzuknüpfen, sich neu zu beleben – und die geschichtlichen Stoffe in den Hintergrund zu rücken. Der Buchmarkt ist ein guter Indikator für diese Bewegungen, und die Vitalität dieser Branche wiederum ist nirgends besser zu sehen als auf einer Messe. Seit 20 Jahren hält Tbilissi eine internationale «Book Fair» ab, an der sich Verleger, Leser und Buchhändler im bunten Gewimmel von Ständen treffen; die letzte Ausgabe ging vor einigen Tagen über die Bühne.
Innenhof in der Altstadt von Tbilissi. (Bild: David Mdzinarishvil / Reuters)

Innenhof in der Altstadt von Tbilissi. (Bild: David Mdzinarishvil / Reuters)

Zwar lugte Rustawelis «Recke» hier noch aus der einen oder anderen illustrierten Liebhaberedition hervor. Sonst aber war es die Gegenwart, die das Bild in der Expo-Halle dominierte: mit Titeln von zeitgenössischen Autoren, die auf Themen ihrer Zeit fokussieren und etwa Gesellschaftsfragen aufgreifen oder den jüngsten Krieg gegen Russland literarisch verarbeiten, aber auch mit federführenden Personen, die ganz offensichtlich einer neuen Generation angehören. Durch das georgische Buchgeschäft weht ein frischer Wind, und die Leute, die hier die Dinge aufwirbeln, sind jung, engagiert, hervorragend gebildet – und überwiegend weiblich.
«You are totally crazy!» Das hätten alle gesagt, als sie 1997 von der Gründung einer Buchmesse gesprochen habe, erzählt Tina Mamulaschwili, die 44-jährige Geschäftsführerin von Sulakauri, dem grössten georgischen Verlag. Das Land durchlief in den 1990ern ein Jahrzehnt, das seine Einwohner einhellig als «Hölle pur» bezeichnen: Auf die 1991 erlangte Unabhängigkeit folgten ein verlustreicher Krieg gegen Abchasien und ein gewaltiges innenpolitisches Chaos; Strom war selten oder nur zu horrenden Preisen erhältlich, die Infrastruktur zerfiel, das Leben stockte.
«Für Männer gab es keine Jobs, damals, als weder gebaut noch irgendetwas fabriziert wurde», erklärt die Autorin Ana Kordsaia-Samadaschwili. Da zudem viele zunächst im Krieg engagiert und danach von ihm traumatisiert gewesen seien, hätten häufig die Frauen in die Bresche springen und die Familien durchbringen müssen. Heute nun sind sie in manchen Branchen die prägenden Figuren, und zwar bis ganz oben. Anders als etwa im deutschsprachigen Buchwesen, wo ein Heer von Mitarbeiterinnen die Presse- und Administrationsarbeit der meist von Männern geleiteten Verlage erledigt, wird in Georgien nicht nur der grösste Verlag, sondern auch das nationale Buchzentrum, das Literaturhaus und der Buchhändler- und Verlegerverband von einer Frau geführt.

Gruss von Max Frisch

Auf der Buchmesse weibeln sie alle herum. Vom Nischenanlass, der vor 20 Jahren gerade einmal 500 Gäste begrüssen konnte, hat sich das Festival zu einem Fixpunkt im georgischen Kulturkalender gemausert; gut 40 000 Lesefreunde kommen inzwischen jährlich her, um sich über das Angebot von 70 ausstellenden Verlagen zu informieren. Die Messe funktioniert – «crazy» ist bei Tina Mamulaschwili heute nur noch das Arbeitspensum. Keine Minute vergeht, ohne dass ein Anruf bei ihr einginge, mal aus dem Verlag, mal aus einem der zugehörigen Buchläden, mal von einer Baustelle: In ein paar Tagen will Mamulaschwili neben der Universität eine neue Buchhandlung eröffnen, doch noch nimmt sich der Ort eher wie eine Garage aus.
Tatsächlich: Während in unseren Breiten aus allen Ecken Abgesänge auf den Buchhandel erklingen, wächst in Georgien der Markt. Natürlich ist er in einem Land mit 3,7 Millionen Einwohnern klein und wird es auch bleiben. Aber auf diesem verhältnismässig tiefen Niveau zeigen die Zahlen konstant nach oben. Seit 2005 werden alljährlich merklich mehr Titel veröffentlicht, viele Bücher erscheinen in höheren Auflagen, die Verkäufe nehmen zu, und auch Übersetzungen vom und ins Georgische sind vermehrt erhältlich: In Mamulaschwilis Laden blickt Max Frisch aus einem Regal, schmuck umkränzt von den Kringelzeichen des georgischen Alphabets. Dass man vom Nullpunkt, an dem das georgische Buchgeschäft beim Zusammenbruch der Sowjetunion gestanden hat, inzwischen so weit gekommen und heuer sogar als Gastland an die Frankfurter Buchmesse eingeladen ist, überrascht die Branchenvertreterinnen manchmal selber: «It’s like a fairy tale.»
Neben die traditionellen Gebäude treten in Tbilissi seit einiger Zeit diverse futuristische Konstruktionen, hier die (bsiher ungenutzte) Konzerthalle. (Bild: David Mdzinarishvili / Reuters)

Neben die traditionellen Gebäude treten in Tbilissi seit einiger Zeit diverse futuristische Konstruktionen, hier die (bisher ungenutzte) Konzerthalle.
(Bild: David Mdzinarishvili / Reuters)

«Im Märchenland» heisst ein Buch, das Knut Hamsun 1903 nach einer Georgienreise geschrieben hat. Und der Norweger ist beileibe nicht der einzige Literat von Rang, der das Land im Südkaukasus besungen, gelobt und verklärt hat. Von Lermontow über Puschkin bis zu Tolstoi waren auch etliche Russen von Georgien fasziniert, und gerade zu Sowjetzeiten galt ihnen der südliche Nachbar als «zweites Paradies», wie John Steinbeck 1948 bemerkte: «Wo wir auch in Russland waren, in Moskau, in der Ukraine oder in Stalingrad, stets fiel der magische Name Georgien. (. . .) Wir begannen tatsächlich zu glauben, dass die meisten Russen hoffen, dass sie nicht in den Himmel kommen, wenn sie sterben, sondern nach Georgien.»

Liberale Öffnung

Fraglos muss ein kaltes Herz haben, wer dem wilden Charme dieses Landes nicht erliegt. Doch der zauberhafte Aufstieg, von dem die Buchwelt berichtet, hat mit georgischer Magie nichts zu tun. Er ist das Ergebnis echt liberaler Politik. Nach seinem Krisenjahrzehnt hat sich Georgien ab 2004 vollständig umgekrempelt. Entschiedener als jedes andere postsowjetische Land hat es die Korruption bekämpft; der intransparente Gesetzesdschungel wurde gelichtet, das Steuersystem durch eine Flat Tax vereinfacht und Unternehmensgründungen stimuliert, das heisst: der administrative Aufwand auf ein Minimum reduziert. Langsam begann die Wirtschaft zu wachsen – was der Buchhandel laut Tina Mamulaschwili unmittelbar spürte: «Bis 2007 hat sich das BIP verdoppelt, und allmählich waren die Leute bereit, Geld für Bücher auszugeben.»
Nebst der wirtschaftlichen hat aber auch die gesellschaftliche Liberalisierung ihren Anteil am Erfolg des Buchgeschäfts: Wo früher Zensur herrschte und Gerüchte zirkulierten, will man heute genau wissen, was auf nationaler und internationaler Ebene passiert – «vor allem die jungen Leute sind neugierig, wissensdurstig und wollen durchs Lesen die Welt erfahren».
Dieser so offenen wie kritischen Gesellschaft ist zurzeit auf dem Rustaweli-Boulevard direkt zu begegnen. Spätabends, wenn sich der Verkehr beruhigt hat und selbst die zögerlichste Besucherin endlich ein paar Strassen zu überqueren vermag, versammeln sich dieser Tage Massen von Georgiern vor dem Parlament: Man protestiert gegen ein Justizurteil, das von familiären Klüngeleien der Staatsanwaltschaft beeinflusst worden sein soll. An Vorwärtskommen ist in dem Menschenauflauf nicht mehr zu denken. Stillstand aber sieht definitiv anders aus.

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