Die digitale Gedenkkarte, die seit wenigen Tagen unter https://www.der-liebe-wegen.org
mit Spendengeldern und der Förderung des Sozialministeriums von
Baden-Württemberg im Netz steht, ist eine Auflistung des
Unrechts, das staatliche Behörden über Generationen an Schwulen und
Lesben begangen haben.
Unter den 250 Einzelschicksalen, die man anklicken kann, ist der 1883 in Stuttgart geborene Theater-
und Filmschauspieler Fritz Junkermann. 1932 war er nach dem sogenannten
Schwulenparagrafen 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe
stellte und erst 1994 endgültig abgeschafft worden ist, zu 280
Reichsmark verurteilt worden. Ein Stricher denunzierte ihn Anfang 1940,
weil er sich damit selbst ein milderes Urteil erhoffte. „Wegen
fortgesetzter widernatürlicher Unzucht“ wurde Junkermann zu einem Jahr
und drei Monaten Haft verurteilt. Am 19. Juli 1941 überführte die
Polizei ihn in das KZ Sachsenhausen, wo er am 9. April 1942
zwangskastriert wurde. Vermutlich am 5. Oktober ist der Schauspieler im
Alter von 58 Jahren vergast worden.
Die Initiatoren des Internetprojekts, der Verein Weissenburg Stuttgart
und die Rosa Hilfe Freiburg, geben den Opfern Gesicht und Stimme.
Erinnerungen an die Repressalien mahnen zur Wachsamkeit. Nach
monatelanger Arbeit haben die Rechercheure, die ein geringes Honorar aus
Landesmitteln erhielten, eine Website online gestellt, die aufwühlend
ist, weil sie das Leben von Menschen beleuchtet und sich nicht auf
Zahlen beschränkt. Erstmals sind viele Scans von Originaldokumenten
veröffentlicht, die etwa die Einweisung in ein Konzentrationslager durch
regionale Polizeidienststellen belegen oder Häftlingspersonalkarteien
und Todesmeldungen aus den Konzentrationslagern zeigen.
Die Webseite ist in Zusammenarbeit mit der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber
entstanden. „Das Internetprojekt setzt um, was Aufgabe des zukünftigen
Lern- und Gedenkortes sein wird“, ist im Grußwort der Initiative zu
lesen. Im Hotel Silber, der früheren Gestapo-Zentrale, hat die Polizei
nach Kriegsende die Überwachung von Minderheiten fortgeführt. Nach
eigener Schätzung hatten die Beamten in den 1950ern und 1960ern etwa
2000 Namen in ihrer Kartei.
Treffpunkte von Schwulen und Lesben waren Bars in den „Vereinigten Hüttenwerken“, wie
man das Rotlichtviertel Stuttgarts nach dem Krieg nannte, Badeanstalten
und Toilettenanlagen wie der spätere Kiosk, aus dem das Lokal Palast
der Republik geworden ist. An der Oberen Bachstraße (die heute vom
Schwabenzentrum überbaut ist) führte Alois Weiß eine Schneiderei, aus
der 1953 mit amtlicher Genehmigung ein Schnellimbiss wurde. Das Geschäft
sei unter der Woche „eine ganz brave Schneiderei“ gewesen, wie sich
Zeitzeugen erinnern, die Rentner Reiner P. und Johann W.: „Aber am
Wochenende gab es dort Tanz für Homosexuelle.“ Hinter der Schneiderei
befanden sich Räume, in die sich die Männer unbeobachtet zurückziehen
konnten. „Es war völlig harmlos, nur Tanz und Musik.“ Kam die Polizei,
wurden die Tänzer im Hinterzimmer gewarnt. Die Musik wurde abgestellt. Daraus ist das Café Weiß geworden, das sich heute beim
Hans-im-Glück-Brunnen befindet. „Dieses Café hat in Stuttgart eine so
wichtige Rolle gespielt“, sagt Gerhard Goller, mehrere Jahrzehnte Leiter
der Gaststättenbehörde im Rathaus, „dass man es zum Weltkulturerbe
erklären müsste.“ Vor dem Krieg existierten schwul-lesbische Stadtpläne in Stuttgart.
Darin konnte man sich über „Sitz und Zusammenkünfte eventuell
vorhandener Organisationen, homoerotische Verkehrslokale, preiswerte
Hotels, verständnisvolle Ärzte und Rechtsanwälte“ informieren, wie der
homosexuellen Zeitschrift „Freundschaft“ im Februar 1933 zu entnehmen
war. Im Saalbau der heutigen Rosenau im Stuttgarter Westen fanden
Maskenbälle für Schwule statt.
Das Internetprojekt „Der Liebe wegen“ hat aufgedeckt, dass sich in der
Region mindestens zwölf Männer von 1945 bis Ende der 1960er „freiwillig”
kastrieren ließen, um der Bestrafung nach Paragraf 175 zu entgehen.
Dies hatten die Rechercheure beim Lesen von Akten des
Justizvollzugskrankenhauses Hohenasperg herausgefunden.
via Stuttgarter Zeitung vom 08.02.2017 - Uwe Bogen
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