Mit einer ernsten
staatsbürgerlichen Ermahnung wurde ich in der Schule vor der Lektüre von
Enzensberger gewarnt und damit dazu verleitet. Er sei ein Neulinker,
ein Gefährlicher. Das war in der fünften, sechsten Gymnasialklasse.
Die
Neugier war geweckt, und wir kauften uns diese staatsgefährdenden
Bändchen in der städtischen Buchhandlung. Doch HME, wie wir ihn bald
einmal nannten, enttäuschte gewissermassen. Denn von kommunistischem
Agitprop war rein gar nichts, von neulinkem Vokabular wenig zu merken.
Vielmehr machte eine subtil formulierte Verunsicherung der nächsten
Platz, handfest war bei Enzensberger nichts.
«Nicht
die Revolution, nur ihr Scheitern kann vor Gericht stehen»: So schreibt
ein Revoluzzer nicht. Enzensberger schien zwar Partei zu ergreifen,
ganz besonders durch die Herausgabe der Zeitschrift «Kursbuch». Aber
just dort schrieb er: «Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht.»
Was
lasen wir damals? Zunächst einmal die «Verteidigung der Wölfe», die
Gedichte aus dem Jahr 1957, sodann «Deutschland, Deutschland unter
anderm», Enzensbergers Rede zur Verleihung des Nürnberger
Literaturpreises im Jahr 1968 sowie, mit jugendlicher Faszination, «Der
kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod».
Ich
behaupte nicht, die Tragweite jener Lektüre damals verstanden zu haben.
Aber etwas trat schon deutlich zutage: Enzensberger führt das Florett,
Enzensberger hat Humor, Enzensberger sträubt sich gegen Etikettierung,
selbst dort und damals, als er noch eindeutig ein Neulinker zu sein
schien.
Und so ist
es geblieben. In den achtziger Jahren folgte «Ach Europa! Wahrnehmungen
aus sieben Ländern» und später, man war in der Zwischenzeit
Familienvater geworden, das reizende Kinderbuch «Der Zahlenteufel. Ein
Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben». So
liebevoll, empathisch im Umgang mit potenziellen Versagern hatte man
sich den messerscharf argumentierenden Deutschen zuvor nicht
vorgestellt. Enzensberger eroberte damit die Herzen von Familienvätern
und -müttern, die noch immer unter ihrem gymnasialen Mathematiktrauma
litten und denen ihre paukenden Kinder nur leidtaten. ... [mehr] https://www.nzz.ch/feuilleton/hans-magnus-enzensberger-wird-90-ein-lob-auf-den-skeptiker-ld.1519895
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