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Montag, 11. November 2019

Hans Magnus Enzensberger wird 90: Ein Lob auf den grossen Skeptiker (und lächelnden Tänzer) / Konrad Hummler. NZZ 11.11.2019

Hans Magnus Enzensberger ist der Skeptiker als Typus, ein Skeptiker auf der Höhe der Zeit, also gleichsam aller Zeiten. Manchmal kann es ein halbes (oder ganzes) Leben dauern, bis man dies wirklich begreift. Und das kam so.
Mit einer ernsten staatsbürgerlichen Ermahnung wurde ich in der Schule vor der Lektüre von Enzensberger gewarnt und damit dazu verleitet. Er sei ein Neulinker, ein Gefährlicher. Das war in der fünften, sechsten Gymnasialklasse.
Die Neugier war geweckt, und wir kauften uns diese staatsgefährdenden Bändchen in der städtischen Buchhandlung. Doch HME, wie wir ihn bald einmal nannten, enttäuschte gewissermassen. Denn von kommunistischem Agitprop war rein gar nichts, von neulinkem Vokabular wenig zu merken. Vielmehr machte eine subtil formulierte Verunsicherung der nächsten Platz, handfest war bei Enzensberger nichts.
«Nicht die Revolution, nur ihr Scheitern kann vor Gericht stehen»: So schreibt ein Revoluzzer nicht. Enzensberger schien zwar Partei zu ergreifen, ganz besonders durch die Herausgabe der Zeitschrift «Kursbuch». Aber just dort schrieb er: «Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht.»
Was lasen wir damals? Zunächst einmal die «Verteidigung der Wölfe», die Gedichte aus dem Jahr 1957, sodann «Deutschland, Deutschland unter anderm», Enzensbergers Rede zur Verleihung des Nürnberger Literaturpreises im Jahr 1968 sowie, mit jugendlicher Faszination, «Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod».
Ich behaupte nicht, die Tragweite jener Lektüre damals verstanden zu haben. Aber etwas trat schon deutlich zutage: Enzensberger führt das Florett, Enzensberger hat Humor, Enzensberger sträubt sich gegen Etikettierung, selbst dort und damals, als er noch eindeutig ein Neulinker zu sein schien.
Und so ist es geblieben. In den achtziger Jahren folgte «Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern» und später, man war in der Zwischenzeit Familienvater geworden, das reizende Kinderbuch «Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben». So liebevoll, empathisch im Umgang mit potenziellen Versagern hatte man sich den messerscharf argumentierenden Deutschen zuvor nicht vorgestellt. Enzensberger eroberte damit die Herzen von Familienvätern und -müttern, die noch immer unter ihrem gymnasialen Mathematiktrauma litten und denen ihre paukenden Kinder nur leidtaten. ... [mehr] https://www.nzz.ch/feuilleton/hans-magnus-enzensberger-wird-90-ein-lob-auf-den-skeptiker-ld.1519895

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