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Freitag, 8. November 2019

Als Johannes R. Becher Anna Seghers eine Sau schimpfte / Rainer Moritz. WELT 07.11.2019

Sommer 1951. Johannes R. Becher, bald Kulturminister der DDR, genießt die sozialisitische Ostsee. Nur die FKKler ärgern ihn. Eine Unbekleidete, die ihr Antlitz hinter dem Parteiorgan verbirgt, ganz besonders. 
Ein warmer Sonntag im Juli oder August 1951. In Ahrenshoop, dem Fischerdorf auf dem Darß, tummeln sich die Erholungssuchenden und genießen das Zusammenspiel von Bade- und Kulturfreuden. Ende des 19. Jahrhunderts bereits hatte sich hier um Paul Müller-Kaempff, Elisabeth von Eicken und Fritz Grebe eine Künstlerkolonie gebildet, und gleich nach dem Zweiten Weltkrieg schickte man sich an, diesen Ruf fortzuführen und „im schönsten Land der Welt“ (Uwe Johnson) ein „Bad der Intelligenz“ zu etablieren.
Maßgeblichen Anteil daran hatte der 1945 aus dem Moskauer Exil heimgekehrte Johannes R. Becher. Als Präsident des kurz darauf gegründeten Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands machte er sich daran, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler an die Ostsee zu locken. Ein „Intelligenz-Sammelpunkt“ mit weiter Ausstrahlung sollte sich auf diese Weise bilden.
Becher selbst fand früh Wohlgefallen an Ahrenshoop, spielte mit dem Gedanken, ein Anwesen, das heutige Dünenhaus, zu erwerben, und hoffte auf Inspiration für sein eigenes Schaffen. 1950 jedoch musste er seine Sommerfrische jählings abbrechen. Eine Sommerliebschaft drohte seine Ehe zu gefährden, es kam zu offenem Zwist am Urlaubsort, und von da an reiste er immer seltener nach Ahrenshoop.

Im Sommer 1951 freilich ließ er es sich nicht nehmen, im weißen Leinenanzug den Strand entlang zu schreiten, den er – anders als der meist in seiner Ferienwohnung hockende Bertolt Brecht – gern aufsuchte. Zuvor hatte er in der Ortsmitte, in der Bunten Stube, nach dem Rechten gesehen und seine Werke unauffällig in die vorderste Reihe gerückt.
Binnen weniger Sekunden verdüsterte sich seine Stimmung. Becher galt als erklärter Gegner der Freikörperkultur, die in der ostdeutschen Bevölkerung keineswegs, wie heute oft behauptet, von Anfang an leidenschaftlich praktiziert wurde, empörte sich beim Anblick provokativ zur Schau gestellter „deformierter Körper“ und wollte das allein „im Interesse der Ästhetik“ nicht dulden.
Und was kommt ihm da, am Strand Richtung Wustrow, unter die Augen? Eine splitternackte Frau um die fünfzig gibt sich hemmungslos der Sonne hin, lediglich ihr Antlitz schützt sie vor der Hitze mit einer Zeitung, genauer: mit einem Exemplar des „Neuen Deutschland“.

Becher vermag es nicht, seine Erregung zu zähmen, stürzt auf die Nackte zu und sorgt so für eine Ansprache, die alsbald in den Anekdotenschatz der Weltliteratur einging. „Schämen Sie nicht, Sie alte Sau?“, soll Sonettspezialist Becher der ahnungslos Ruhenden zugerufen haben – eine pointierte Frage, die in Peinlichkeit umschlägt, als die Angesprochene die Zeitung entfernt.


„Für dich immer noch die alte Sau“: Anna Seghers (1900 bis 1983)


„Für dich immer noch die alte Sau“: Anna Seghers (1900 bis 1983)
Quelle: picture alliance
Es ist Anna Seghers, die Grande Dame der DDR-Literatur. Beide verstummen, man wechselt ein paar belanglose Worte, tut so, als wäre nichts vorgefallen, und wünscht sich einen schönen Tag. Brecht und Hanns Eisler, die diesen Sommer ebenfalls in Ahrenshoop verbringen, sollen von dieser Szene nichts mitbekommen haben.
Allein das wäre schon eine feine Geschichte, doch sie erfährt eine zusätzliche Pointe, als Anna Seghers wenige Wochen später in der Deutschen Staatsoper zu Berlin der Nationalpreis erster Klasse der DDR verliehen wird. Überreicht wird ihr die Auszeichnung vom späteren Kulturminister Becher, der mit einem zarten „Meine liebe Anna ...“ ansetzt.

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Diese hat indes den verbalen Zwischenfall von Ahrenshoop nicht vergessen und zischt ihm ein „Für dich immer noch die alte Sau“ zu – in einer Lautstärke, die die verdutzten Festgäste in den ersten Reihen an diesem Dialog partizipieren lässt.

via https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article203105918/Achtionszenen-der-Weltliteratur-Johannes-R-Becher-und-Anna-Seghers.html

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