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Dienstag, 17. September 2019

Märchen für Erwachsene: Der Skandal um Claas Relotius / Bernhard Pörksen. NZZ 17.9.2019

Es gibt eine grosse, fundamentale Frage, die der Philosoph Immanuel Kant einmal formuliert hat. Was ist der Mensch? Man kann, wenn man das Buch des Journalisten Juan Moreno zu Ende gelesen hat, jenes Mannes, der den «Spiegel»-Fälscher und Branchen-Star Claas Relotius mehr oder minder im Alleingang entlarvte, eine ziemlich düstere Antwort formulieren. Sie lautet: Der Mensch ist das Wesen, das die Lüge liebt, bestätigungssüchtig, gefangen im Kokon der eigenen Vorurteile, von denen er auch dann nicht lassen will, wenn sich die Realität längst laut dagegen sperrt.
Was ist passiert? Juan Moreno, freier Autor des «Spiegels», hat einen der grössten Medienskandale in Deutschland aufgedeckt, Claas Relotius, einen gefeierten, mit Preisen überhäuften Reporter als Hochstapler demaskiert. Und er hat mit seinem neuen Buch, «Tausend Zeilen Lüge», ein Lehrstück verfasst, das von der Manipulationsanfälligkeit des Menschen handelt (und letztlich, aber dazu später, auch von der Möglichkeit, dem Irrtum und der Illusion zu entkommen).
Juan Moreno und Claas Relotius wurden beauftragt, gemeinsam eine Reportage zu schreiben. Der eine (Moreno) zog mit einem Flüchtlingstreck von Mexiko kommend in Richtung der amerikanischen Grenze, der andere (Relotius) sollte eine Bürgerwehr und Gruppe von Trump-Fans infiltrieren, die die Grenze sichern will. Das katastrophale, schon von Klischees vernebelte Briefing, das der Ressortleiter Matthias Geyer per Mail an die beiden Autoren verschickt, muss man auszugsweise zitieren. «Die Figur für den ersten Konflikt beschreibt Juan in dem grossen Treck. Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land, in dem ihr das Leben unmöglich geworden ist. (. . .) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas. (. . .) Dieser Typ hat selbstverständlich Trump gewählt (. . .) und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, so wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.» Dann zum Schluss der Satz: «Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.»
Moreno ist verärgert über diesen Zwang zur Zusammenarbeit mit Relotius, der die Geschichte dann auch noch als der vermeintlich bessere Autor zusammenschreiben soll und der ihm dann, als er selbst seine Reportageelemente liefert, Regieanweisungen erteilt, um das Erzählte aufzupeppen. Da macht er nicht mit. Wehrt sich. Beginnt seinerseits die Passagen von Claas Relotius zu prüfen. Entdeckt Fehler, Ungereimtheiten, Übertreibungen. Meldet die seinem Ressortleiter Matthias Geyer, der ihm nicht glaubt, ihm zwischen den Zeilen zu verstehen gibt, dass er, der vermeintliche Anschwärzer, hier gerade seine eigene Karriere beerdigt. Recherchiert schliesslich auf eigene Faust. Belegt, dass die Relotius-Reportage von Bürgerwehrmilizen, die schon mal beiläufig auf Mexikaner feuern, die sie in der Dunkelheit der Grenzregion vermuten, absolut nicht stimmen kann. Meldet sich erneut bei seinem Ressortleiter und dem designierten «Spiegel»-Chef Ullrich Fichtner.
Und wieder glaubt man ihm nicht. Hält die Beweise, die er liefert, nicht wirklich für beweiskräftig und vertraut lieber den geschickten, so raffiniert komponierten Erwiderungen und den gefälschten Mails des Starautors Claas Relotius. Einen «Jahrhundertjournalisten» nennen ihn manche in der Redaktion. Über 40 Auszeichnungen hat er erhalten. Er soll mit Anfang 30 Ressortleiter werden. Manche trauen ihm noch höhere Positionen zu, nennen ihn gar die Zukunftshoffnung des Magazins. Und seine Chefs klammern sich bis zum absolut endgültigen Beweis des Gegenteils an die Illusion seiner Integrität. Bis alles zusammenbricht und Relotius gesteht. Dann explodiert der Skandal am 19. Dezember 2018 und wird vom Magazin selbst öffentlich gemacht, später durch den schonungslosen Bericht einer Untersuchungskommission ergänzt. 60 Texte hat Relotius für den «Spiegel» und zahllose Geschichten für andere Medien verfasst. Etliche sind gefälscht, voller Fehler, erfundener Figuren, gefakter Interviews. Relotius hat das Magazin in seine grösste Krise gestürzt.
Wird nicht, so fragen alsbald schadenfrohe Lügenpresse-Rufer, ohnehin überall gelogen, getrickst und retuschiert? Das ist eine furchtbare Frage zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Viele Zeitungen und Zeitschriften verlieren an Auflage und Anzeigen und sind auf die Solidarität und das Vertrauen des Publikums angewiesen wie nie zuvor. Schon allein deshalb ist die maximal transparente Selbstaufklärung des Skandals so wichtig.
Was also zeigt der Fall? Zum einen wird hier die eigentümliche Magie des Hochstaplers greifbar, der lockt, schmeichelt, blendet, die Erwartungen des Gegenübers erspürt, um sie dann zu bedienen und seine Geschichten von fernen, kaum zugänglichen Orten entlang von gefühlten Wahrheiten zu fingieren. Relotius hat sie alle eingeseift: seine Chefs, die Faktenchecker der Dokumentationsabteilung und selbst diejenigen Leser, die gravierende Fehler in seinen Reportagen entdeckten und die er dann so lange in Gespräche verwickelte, bis sie ganz entzückt waren von diesem so klugen und umgänglichen Menschen.
Zum anderen aber ist dieser Fall keineswegs typisch für «die» Branche, sondern offenbart die offene Flanke und die Korrumpierbarkeit des Star- und Edelfederjournalismus – eines Mini-Segments, das traditionell viel Aufmerksamkeit bekommt. Denn deutlich wird: Ein Claas Relotius, Prototyp des sensiblen Schönschreibers, macht jenen, die unbedingt mehr sein wollen als einfache Arbeiter im Bergwerk der Textproduktion, das Angebot der Selbsterhöhung. Er lässt sie Teil einer Bewunderungsgemeinschaft werden, einer narzisstischen Blase, in der man sich im Rausch eines existenziellen Pathos wechselseitig zu bestätigen vermag, wie herrlich bedeutend man doch ist oder zumindest sein könnte. Den Schrecken der Welt beschreiben, für das Gute einstehen, die Menschen zu Tränen rühren – und dann auch noch Glamour, Geld und alle paar Wochen eine Preisgala, auf der man im eng geschnittenen Anzug den nächsten Pokal entgegennimmt, um in bedrückten Worten nicht vom eigenen Werk, sondern von den Toten in Syrien zu reden?!
Claas Relotius war eine Rollen- und Karrierehoffnung für all jene, die eigentlich nicht wirklich Journalisten sein wollen, sondern Schriftsteller, Künstler, Magier des Wortes. Er verkörperte den elegantesten und aufregendsten Ausbruch aus dem Dienstleistungsgeschäft der Nachrichten- und Informationsvermittlung, den man sich vorstellen kann. Fakten? Welche Fakten? Und wer will nicht ein wenig mitträumen, wenn gerade ein faszinierendes Mischwesen aus Joan Didion, Hunter S. Thompson und Tom Wolfe vorbeiflattert? Es ist kein Zufall, das Claas Relotius von Juan Moreno enttarnt wurde, einem klugen und kantigen Inside-Outsider, der nicht so ganz dazugehörte und der, wie er selbst schreibt, gar nicht wusste, dass der von ihm Verdächtigte in der Redaktion längst als eine Art Heiligenfigur des literarischen Journalismus galt. Moreno, Sohn andalusischer Bauern, den der «Spiegel»-Pförtner auch nach zehn Jahren beim Magazin schon mal für den Taxifahrer hielt, besass die nötige Distanz.
Hatte Relotius eine ideologische Agenda? Moreno verneint dies. Er porträtiert den Fälscher vielmehr als eine chamäleonhafte Existenz und einen, der im Zweifel jedem Medium, für das er schreibt, den passend wirkenden Sozialporno liefert. Stets ging es ihm um grosse Gefühle, emotionale Dominanz und die Selbsterhöhung durch die ganz besondere Story, dies mitunter auch im direkten Umgang mit Kollegen. So lehnte er zunächst eine Festanstellung beim «Spiegel» ab und erzählte den verblüfften Redakteuren, er müsse am Morgen und am Abend seine krebskranke Schwester pflegen, die er sehr liebe, aber die es eben, wie sich irgendwann herausstellte, gar nicht gab.
Kurzum: Relotius erscheint als jemand, der Märchen für Erwachsene fabriziert, die vor allem dramatisch sind, einfach und klar. «Für Claas lege ich meine Hand ins Feuer», so sagt der Dokumentar, den Relotius wieder und wieder nach seiner kranken Mutter fragt, um sich dann mit drei verschiedenen Koranübersetzungen oder irgendwelchen skrupulös wirkenden Detailfragen als ein absolut ernsthafter Reporter in Szene zu setzen, der er nie war.
– Was ist der Mensch? Er ist das Wesen, das Geschichten erzählt, von denen manche stimmen und andere nicht. Claas Relotius, Dompteur der Wirklichkeit, Produzent höchst effektiver Preiserwartungsprosa, erfindet entlang von Klischees, aus denen der Kitsch trieft – Erweckungserlebnisse in Serie, David-gegen-Goliath-Bullshit, Heldenreisen, das traurige Lied, das stets im richtigen Moment erklingt. Als er aufflog, so erzählt man sich, habe er seine Preispokale in eine blaue Ikea-Tüte gepackt und vor dem «Spiegel»-Gebäude in die Elbe geschmissen.
Ob das stimmt? Wer weiss. Sein Gegenspieler Juan Moreno schreibt seit 20 Jahren Reportagen. Er hat noch nie einen Preis für seine Texte bekommen und doch die Ehre des «Spiegels» und der gesamten Branche verteidigt. Sein Buch wird man auch nach Jahren noch lesen – als Musterbeispiel des investigativen Medienjournalismus, als meisterhafte Analyse menschlicher Manipulationsanfälligkeit und als erschütternde Parabel über den Felix Krull des literarischen Journalismus. Wie entkommt man der Illusion? Vielleicht ist alles ganz einfach. Man darf nicht allzu sehr dazugehören wollen.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt ist von ihm erschienen: «Die grosse Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung» (2018).




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