Zum Tod von Toni Morrison / Anne Haeming. In: SPIEGEL online 06.08.2019
Es ist bedrückend, noch einmal Toni Morrisons Nobelpreisrede zu lesen, am Tag der Meldung ihres Todes. Weil sofort klar ist, wie machtvoll Sprache ist - und wie sehr ihr drängendes, hellsichtiges Wort vermisst werden wird.
Und so liest man die Fabel, die sie damals 1993 vortrug, und
erschrickt, denn es ist, als kommentiere sie das Heute. Im Kopf den
widerwärtig schäumenden Hass, den Menschen mit ihren Worten derzeit ohne
Zögern ausspucken, der so hartnäckig klebt, ätzt, so viel verrottet, wo
er landet. Und er landet überall.
Die Fabel also. "Es war einmal eine alte Frau", hebt Morrison in jener Dankesrede
an, weise sei sie und blind, sie stelle sich die Frau vor als Tocher
von Sklaven, schwarz, Amerikanerin, sie lebe allein in einem kleinen
Haus am Rande der Stadt. Ein paar junge Leute kommen, erzählt Morrison,
einer fragt: "Der Vogel, den ich in der Hand habe: Ist er tot oder
lebendig?"
Die Frau ist still. Sie seufzt. Dann sagt sie: "Ich weiß nicht, ob
der Vogel, den du in in der Hand hast, tot oder lebendig ist, aber ich
weiß, er ist in deinen Händen, in deinen Händen."
Dieser Vogel, erzählt Toni Morrison, steht für die Sprache: Weil es unsere Verantwortung ist, wie wir mit ihr umgehen.
via https://www.spiegel.de/kultur/literatur/toni-morrison-die-sprachgewalt-nachruf-a-1280780.html
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