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Freitag, 10. Februar 2017

Gespräch mit dem Interimsdirektor der ZB MED - Leibniz-Informationszentrum Lebenswissenschaften (Köln und Bonn), Dr. Dietrich Nelle

Wie kam es dazu, dass Sie sich für die Position eines Interimsdirektors der ZB MED interessiert haben? Sie kannten die ZB MED ja als Bundesvertreter im Evaluierungsverfahren.
Das kam für mich völlig überraschend, obwohl ich die Evaluierung von ZB MED in allen Phasen von der Begehung über die Empfehlung des Senats der Leibniz-Gemeinschaft bis zur Entscheidung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz begleitet hatte. Damals gab es noch überhaupt keinen Gedanken daran, dass hier eine berufliche Aufgabe für mich warten könnte. Als sich dann das Landesministerium für Wissenschaft dafür entschieden hatte, ZB MED nicht abzuwickeln, sondern nach einer erfolgreichen Transformation in die Leibniz-Gemeinschaft zurückzuführen, wurde ein Interimsdirektor gesucht, der sich mit den Herausforderungen bei der Digitalisierung im Wissenschaftssystem und mit den Anforderungen an eine Mitgliedschaft in der Leibniz-Gemeinschaft auskennt und der auch Erfahrung im Wissenschaftsmanagement haben sollte.  Meine bisherige Tätigkeit als Unterabteilungsleiter im Bundesforschungsministerium mit langjähriger Erfahrung in Gremien der Leibniz-Gemeinschaft und meine Mitwirkung als Gründungsmitglied im Rat für Informationsinfrastrukturen waren dann wohl Argumente dafür, mir die spannende Herausforderung bei ZB MED anzuvertrauen.
Eine Grundlage für meine Entscheidung, diese Herausforderung persönlich anzunehmen, war das Wissen darum, dass ZB MED wichtige Beiträge für das Wissenschaftssystem leisten kann und über außergewöhnlich gute Voraussetzungen verfügt, den harten Wettbewerb um die (Wieder-)Aufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft erfolgreich zu bestehen. Ausschlaggebend dafür, in diese Aufgabe selber kurzfristig hineinzuspringen, war dann die Erkenntnis, dass die Erfolgschancen nur dann genutzt werden können, wenn sofort mit aller Energie weiter daraufhin zugearbeitet wird.
Mit einem Bild aus dem Sport würde ich dies so fassen: In einem Staffellauf ist das Spitzenteam ZB MED zurückgefallen. In dieser Situation würden wir das Rennen bereits verloren geben, wenn wir in den Schongang schalten und uns eine Ruhepause gönnen würden.  Mitten im bereits laufenden Rennen wurde vielmehr ein frischer Läufer gebraucht, der die Staffel sofort übernimmt und mit voller Kraft voran läuft, um am Ende seines Turns in aussichtsreicher Position rangierend seinerseits die Staffel an einen starken Schlussläufer weiterzugeben, der bei Staffelübergabe nicht erst noch in den Startlöchern sitzt, sondern bereits volles Tempo aufgenommen hat und am Ende als Erster durch das Ziel läuft.
Wie empfanden Sie die Empfehlungen des Senats der Leibniz Gemeinschaft?
Schmerzhaft aber unausweichlich. Das Evaluierungssystem der Leibniz-Gemeinschaft beruht auf der strikten Einhaltung hoher Qualitätsstandards. Nachdem die zentralen Maßgaben der 2011 durchgeführten Evaluierung bis zum Ablauf der damals eingeräumten Förderung für vier weitere Jahre nicht erfüllt werden konnten, war die daraus resultierende Entscheidung so gut wie vorgegeben.
Das negative Gesamturteil sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die wichtigen Aufgaben für ZB MED im Zuge der Digitalisierung des Wissenschaftssystems keineswegs in Frage gestellt wurden. Vielmehr war die Empfehlung, diese Aufgaben beschleunigt, strategischer und mit großem Nachdruck anzugehen. Auch die hohe Motivation der Mitarbeiterschaft – die ich auch selber während der Begehung eindrucksvoll erleben konnte -, wurde als eine Stärke der Einrichtung gelobt. So sind die Empfehlungen heute auch kein Klotz am Bein, sondern eine wertvolle Orientierung und Stütze bei der Gestaltung des weiteren Transformationsprozesses.
Wie haben Sie die ZB MED bei Ihrem Amtsantritt vorgefunden?
Die Einrichtung hat sich so gezeigt, wie ich es erhofft und insgeheim auch erwartet hatte. Die Belegschaft hatte trotz des langen, Kräfte zehrenden Prozesses und aller enttäuschter Hoffnungen nicht aufgesteckt, sondern den Blick nach vorne gerichtet. So wurde dann auch akzeptiert, dass es jetzt darauf ankommt, noch einmal alle Kräfte zusammen zu nehmen, einen auch in den kommenden Jahren anstrengenden und herausfordernden Weg weiterzugehen, um die vorhandenen Chancen zu nutzen und als eine moderne Informationsinfrastruktur für die Lebenswissenschaften wieder Erfolg zu haben.
Sie haben seit Ihrem Amtsantritt mittlerweile hundert Tage und mehr hinter sich. Was ist in dieser Zeit alles geschehen bzw. was haben Sie durchgesetzt?
Die ersten Wochen waren vor allem damit gefüllt, die Einrichtung von innen kennen zu lernen und Prozesse zur Erarbeitung der in der Evaluierung geforderten Konkretisierungen unserer Strategien in allen Bereichen unseres Leistungsportfolios aufzusetzen. Vom Stiftungsrat wurde ein neuer Wissenschaftlicher Beirat berufen, dessen Mitglieder uns schon vor dem ersten Zusammentreffen mit vielfältigem Rat und großem Engagement begleiten.
Eine wesentliche Aufgabe meiner Amtszeit besteht darin, die beiden Gemeinsamen Berufungen für jeweils eine Professur mit der Medizinischen Fakultät der Uni Köln und der Landwirtschaftlichen Fakultät der Uni Bonn zügig voranzubringen und das hervorragende wissenschaftliche Umfeld an beiden Standorten für wechselseitig ertragreiche Kooperationen zu nutzen. Mit der Uni Bonn konnte binnen weniger Wochen ein neuer Kooperationsvertrag verhandelt und unterzeichnet sowie eine Gemeinsame Berufungskommission für die W2-Professur mit der dortigen Landwirtschaftlichen Fakultät eingesetzt werden. Und mit der Uni Köln ist das Verfahren für die Gemeinsame Berufung weit fortgeschritten. Eine weitere Priorität liegt im intensiven Austausch mit unseren bundesweiten Nutzern und Partnern. Dies gilt sowohl innerhalb der Wissenschaft in den Hochschulen, der Leibniz-Gemeinschaft, der Ressortforschung, den weiteren außeruniversitären Einrichtungen und bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, als auch im Bibliothekswesen, in Bundes- und Landesministerien sowie auf europäischer Ebene. Auf diese Weise sind bislang rund hundert Leitungstermine mit externen Partnern aufgelaufen. Neben Institutsbesuchen, Gremiensitzungen, Teilnahme an Workshops, Moderation von Panel-Diskussionen, einem Impuls für ein Führungskolleg der Leibniz-Gemeinschaft und weiteren Außenterminen hatten wir bei uns in ZB MED Besuche unter anderem von Staatssekretären der Bundes- und Länderebene und Generalsekretären mehrerer Wissenschaftsorganisationen.
Auch fand in Köln auf Einladung von ZB MED eine Sitzung des Executive Boards des Europäischen Infrastruktur-Gremiums ESFRI statt, in welcher für den Europäischen Ministerrat Empfehlungen für die Ausgestaltung der European Open Science Cloud ausgearbeitet wurden. Eine zuvor im Rheinischen Landesmuseum Bonn gezeigte Ausstellung, die in Kooperation mit ZB MED gestaltet wurde und für die ZB MED auch einen neuartigen digitalen Katalog erarbeitet hat, ist noch bis Ende März im Foyer des Hauptgebäudes von ZB MED in der Gleueler Straße in Köln-Lindenthal zu sehen
Sie haben den Beirat fast völlig neu zusammengesetzt. Was wollen Sie damit erreichen? 
Die Entscheidung, den Beirat neu zusammenzusetzen, hat der Stiftungsrat von ZB MED in derselben Sitzung getroffen, in der ich als Interimsdirektor berufen wurde. Die Berufung des neuen Beirates erfolgte dann in der ersten Stiftungsratssitzung meiner Amtszeit. Es handelt sich um einen in der Wissenschaft selbstverständlichen Vorgang, nach einer negativen Evaluierung nicht nur eine neue Leitung zu bestellen, sondern gleichzeitig auch den Wissenschaftlichen Beirat als zentrales strategisches Gremium neu zu besetzen. Keineswegs selbstverständlich ist es aber, in einer solchen Situation ausgesprochen hochkarätige Mitglieder neu zu gewinnen, die das Institut in seinem breit gespannten Spektrum mit ausgewiesener Kompetenz und vielfältiger Erfahrung unterstützen wollen.
So gehören dem Beirat Leitungen renommierter wissenschaftlicher Einrichtungen und Bibliotheken an, die zugleich fachlich unsere Bandbreite in den Lebens- und Informationswissenschaften abdecken. Ein positives Signal für die Zukunft von ZB MED ist überdies, dass vier Mitglieder der Bewertungsgruppe - welche ja die der Evaluierungsentscheidung zugrundeliegenden Empfehlungen zu ZB MED formuliert hatten -, sich nun im Wissenschaftlichen Beirat engagieren. Sie stehen in besonders sichtbarer Weise dafür, dass die Evaluierungsempfehlungen umfassend und überzeugend aufgearbeitet werden können und dass dies in der erforderlichen Qualität und im erforderlichen Tempo auch tatsächlich geschehen wird. Alle Mitglieder des Beirats werden uns auf dem nun vor uns liegenden Weg ausdrücklich als unsere „kritischen Freunde“ zur Seite stehen. Sie sind uns gewogen, werden uns aber gerade deswegen mit konstruktiver Kritik nicht verschonen und uns so auf dem Weg zurück in die Leibniz-Gemeinschaft voranbringen.
Empfehlungen eines Beirats sind die eine Sache, diese umzusetzen eine andere. Was sind die wichtigsten Barrieren für eine Umsetzung, und wie wollen Sie die schleifen?
Ich sehe gar keine zu schleifenden Barrieren, sondern vor allem zu ergreifende Chancen. Die Unterstützung für ZB MED durch unsere Partner ist mehr als beeindruckend, es liegt vor allem an uns, jetzt bei begrenzten Ressourcen kluge Prioritäten zu setzen, diese zielstrebig voranzubringen, in dem jetzt vor uns liegenden Marathonlauf nicht nachzulassen und so das in uns gesetzte Vertrauen fortlaufend zu rechtfertigen.
Gibt es neue Ideen für die Entwicklung der ZB MED, die wir
bislang nicht kommuniziert haben und zwar bezüglich
         ... der Positionierung (im Kontinuum zwischen Bibliothek und Forschungsinstitut)
          ... der langfristigen Perspektiven der ZB MED
         ... des Produkt- und Serviceportefeuilles?
Die Evaluierungsempfehlungen sagen gar nicht, dass wir unsere Entwicklungsrichtung grundlegend ändern müssten, sondern dass wir auf diesem Weg mit deutlich gesteigerter Geschwindigkeit vorankommen müssen. Dies gilt für alle Bereiche. Als Bibliothek mit einem weltweit einmaligen Bestand hat ZB MED eine Verantwortung dafür, seinen Wissensbestand kontinuierlich auszubauen und dazu die überregionale Erschließung neuen Wissens und dessen Verknüpfung mit verschiedensten Wissensquellen, insbesondere Forschungsdaten, voranzutreiben. 
Im Zeitalter der Digitalisierung ist dieser Wissensschatz im Sinne von "Smart Data" mit den Möglichkeiten moderner Informationstechnologien wie zum Beispiel Text- und Data-Mining mit klassischen bibliothekarischen Kompetenzen in der Ordnung und Systematisierung von Wissen zu verbinden und damit zur Entfaltung zu bringen. In allen Bereichen der Wissenschaft kommt es letztlich immer weniger darauf an, wieviel Wissen wir theoretisch verfügbar haben, sondern immer mehr darauf, wie wir das verfügbare Wissen auch tatsächlich nutzen und darauf neue Forschung und neue Mehrwertdienstleistungen aufbauen. Ebenso wird der Einsatz für Open Access und für ein gutes Forschungsdatenmanagement als Einsatz für die Produktivität von Wissenschaft immer unverzichtbarer.  Die beiden Gemeinsamen Berufungen mit den Unis Köln und Bonn werden dazu beitragen, dass ZB MED ein herausragender Ort der Forschung zu Instrumenten und Methodik der Informationsgewinnung, -verarbeitung und -versorgung sein wird, dessen Leistungsportfolio sich kontinuierlich mit den ständig wandelnden Anforderungen und Möglichkeiten der Wissenschaft weiterentwickelt.
Deswegen wäre es mir auch fremd, das Bild eines Kontinuums mit Bibliotheken und Forschungsinstituten als entgegengesetzten Polen zu zeichnen. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass eine Bibliothek für die Wissenschaft mit überregionalem Anspruch nicht nur Empfänger und Aufbewahrungsort von Wissen sein kann, sondern ihre ureigensten Aufgaben nur dann überzeugend erfüllen kann, wenn sie auch selber gute Wissenschaft betreibt, wenn sie auch selber ein hervorragendes Forschungsinstitut ist und wenn sie vor allem selber die weitere Entwicklung von Wissenschaft in erster Reihe aktiv mitgestaltet.
Wenn dann die neue Leitung (in Form einer W3-Professur) installiert ist, welche Aufgaben haben Sie dann noch?
Meine Aufgabe bei ZB MED war von vornherein auf begrenzte Zeit angelegt. Als Interimsdirektor bin ich quasi dafür da, mich selber schnellstmöglich wieder entbehrlich zu machen. Der Wiederaufnahmeprozess in die Leibniz-Gemeinschaft kann nur von der wissenschaftlichen Leitung aussichtsreich gestaltet werden. Als Interimsdirektor ist mir die Vorbereitung eines reibungslosen und effektiven Übergangs deshalb ein besonderes Anliegen. Wie ich mit meinem Bild von der Staffelübergabe bereits angedeutet habe, schließt dies eine kurze gemeinsame Übergangszeit mit der neuen Leitung ein. Wie geplant möchte ich dann aber nach erfolgter Mission wieder in das Bildungs- und Forschungsministerium zurückkehren, um dort erneut an verantwortlicher Position Gestaltungsaufgaben für das deutsche Wissenschaftssystem zu übernehmen.
Evaluierungsverfahren 2018 - ist das nicht sehr knapp?
Eine neue Evaluierung 2018 würde uns tatsächlich "auf dem falschen Fuß" erwischen. Aber das steht auch gar nicht an. Vor einer neuen Evaluation ist es nicht mit der Formulierung neuer Strategiepapiere getan, sondern es kommt vor allem auf deren überzeugende Umsetzung in die Realität an. Außerdem braucht jede substantielle wissenschaftliche Evaluierung ein volles Jahr Vorlauf an handwerklicher Vorbereitung. Daran schließen sich noch einmal zwei Jahre an, die das Evaluierungs- und Aufnahmeverfahren selber beansprucht. Realistisch ist demzufolge, dass wir 2019 den Antrag für eine Wiederaufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft zum 1. Januar 2022 stellen.
via Open Password vom 07.02.2017

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